Tages-Anzeiger

Nur brave Kinder dürfen gamen …

Wir haben mit unseren Kindern (8 und 10) folgenden Deal: Wenn sie sich nicht an Abmachungen halten – nicht reinkommen, wenn wir sie rufen, ihre Teller nicht abräumen etc. – bestrafen wir sie mit Geräteentzug. Nun hat mir kürzlich eine Freundin gesagt, dass eine solche Art der Bestrafung kompletter Unsinn sei, weil sie zum einen nichts mit dem Regelverstoss zu tun hat und zum anderen die Geräte für unsere zwei Buben nur noch interessanter werden. Stimmt das wirklich? Wie seht ihr das? Leserfrage von Simone auf Effretikon.

Liebe Simone, danke für Ihre Frage. Belohnungs- und Bestrafungssysteme sind so alt wie die Menschheit selbst. Beim genaueren Hinschauen gleicht unser Leben einem einzigen Hindernislauf zwischen Belohnung und Bestrafung. Ein Säugling muss kurz aufschreien, damit er mit Milch belohnt wird. Kleinkinder werden mit Lächeln und aufmunternden Worten belohnt, sobald Sie auf das Bild der Katze zeigen und «miau» sagen können.

Unsere ganze Gesetzgebung ist ein einziges Belohnungs- und Bestrafungswerk.

Wenn unsere Kinder dann später mit dem Velo auf dem Trottoir fahren, erhalten sie als Bestrafung die erste Busse. Unsere ganze Gesetzgebung ist ein einziges Belohnungs- und Bestrafungswerk. Halten wir uns an die Regeln, werden wir mit Freiheit belohnt, verstossen wir gegen das Gesetz, werden wir bestraft. Und wer sich das ganze Leben lang an die Regeln gehalten hat, den erwartet im Jenseits das Paradies als ultimative Belohnung.

Kausale Beziehung zwischen Regelverstoss und Strafe

Belohnungen und Bestrafungen haben immer zum Ziel, einen Einfluss auf unser Verhalten zu haben. Aus erzieherischer Sicht macht es Sinn, wenn immer möglich eine kausale Beziehung zwischen Regelverstoss und Strafe zu haben. Am besten ist es, die Regeln mit den Kindern gemeinsam zu erstellen und dabei auch den Sinn der Regel zu erklären. Unbegründete Regeln sind viel schwieriger zu verstehen und zu befolgen. Wenn also die Strafe für eine nicht eingehaltene Regel in direktem Zusammenhang mit dem Verstoss steht, unterstützt die Regel das Kind beim Verstehen und beim Erbringen des erwarteten Verhaltens.

So muss vielleicht die- oder derjenige, der das Geschirr nach dem Essen nicht abräumt, beim nächsten Essen das Geschirr der ganzen Familie wegräumen, oder muss den Abfallsack runtertragen. Das Ziel der Regel ist Hygiene und Ordnung im Haushalt und die Strafe unterstützt das Ziel direkt.

Einfache und möglichst wenig Regeln

Grundsätzlich empfehle ich, einfache und möglichst wenig Regeln aufzustellen, ganz nach dem Motto: so wenig wie möglich, so viel wie nötig. Je mehr Regeln wir aufstellen, desto schwieriger und aufwendiger wird auch die Kontrolle der Regelumsetzung. Um uns die Bestrafung einfach zu gestalten, orientieren wir uns vielfach an der Frage «wo tut es am meisten weh?» anstatt «wie lernt das Kind am effizientesten, sich den sozialen Normen einzufügen?».

Dass ein Verbot die Faszination und Attraktivität eines Objektes steigert, wissen wir aus vielen psychologischen Studien.

Wenn wir also eine Pauschalstrafe in Form von Handyentzug oder Gamekonsolen-Entzug für alle Regelverstösse einführen, vereinfacht dies unser «Regel-Management», ist jedoch pädagogisch nicht empfehlenswert. Dass ein Verbot die Faszination und Attraktivität eines Objektes steigert, wissen wir aus vielen psychologischen Studien. So kann eine Pauschalbestrafung mit Handyentzug das Suchtpotenzial des Handys zusätzlich steigern, da es durch das nicht kausal zusammenhängende Verbot zusätzlich zum Objekt der Begierde wird.

Suchtpotenzial von Geräten nicht unterschätzen

Wenn wir also die Bildschirme oder Gamekonsolen einziehen, sollte dies idealerweise immer in Bezug zu unserer Medienerziehung stehen. Diesbezüglich ist Geräteentzug nicht nur unser Recht, sondern auch unsere Pflicht als Erziehungsberechtigte. Computerspiele, «soziale Medien» und das Handy allgemein haben ein enormes Suchtpotenzial. Neuropsychologische Untersuchungen bestätigen, dass Reize und Impulse aus Videogames den Reizen aus dem realen Leben quasi in nichts nachstehen. Das Lustzentrum (Nuccleus accumbens) des Hirns schüttet bei solchen Reizen Dopamin als Glückshormone aus. Dieses Glücksgefühl wird danach vom Stirnhirn kontrolliert und reguliert.

Da das Stirnhirn erst im erwachsenen Alter ausgewachsen und voll funktionsfähig ist, lassen sich Kinder viel mehr von Glücksgefühlen leiten. Dies wird von den Anbietern «sozialer» Plattformen und Videospielen ausgenützt. Die meisten Produkte werden gratis angeboten, um die Nutzerinnen und Nutzer danach so schnell wie möglich abhängig zu machen.

Spielerisch bleiben

Unterstützen Sie Ihre Kinder beim Suchen von Alternativen zu Bildschirmzeit. Versuchen Sie auch, diese Alternativen besonders attraktiv zu machen. Dies kann durch einfache und spielerische Tricks gelingen; versprechen Sie zum Beispiel, beim Kartenspiel oder Verkleidungsspiel mitzuspielen. Spielerische Elemente in Regeln einzubringen, ist eine hervorragende Taktik, um es einfacher und attraktiver zu machen. Ein geniales Beispiel dieser sogenannten Gamification war das Wort «Triffsch?» auf öffentlichen Abfalleimern in mehreren Zürcher Gemeinden. Mit einem einzigen Wort (das langweilige Anti-Littering-Regeln ersetzte) wurde aus einer erwarteten Haltung ein Spiel.

Vergessen Sie dabei jedoch nie, dass Kinder vor allem spielen wollen und spielen sollen.

Nutzen Sie die Bildschirmzeitdaten der ganzen Familie und schreiben Sie diese auf ein Scoreboard auf dem Kühlschrank. Belohnen Sie die bestgenutzte Bildschirmzeit (dank dem Youtubeclip zum besseren Verständnis, wie man irreguläre französische Verben konjugiert, gab es einen glatten Sechser). Genau wie auch unser Lohn immer mehr von Performance-Indikatoren abhängt, können Sie die Bildschirmzeit-Regel auch direkt vom Spiel abhängig machen (nutzen sie z. B. den FIFA Trainer Modus im Fifa-Spiel, um die darin vorgeschlagene Verbesserung der Passquote anzuwenden).

Vergessen Sie dabei jedoch nie, dass Kinder vor allem spielen wollen und spielen sollen. Nutzen Sie diese kreative Form von Regeln und Belohnungen, um spielerisch in Kontakt zu bleiben. Da es mit zunehmender Zeit schwieriger wird, Regeln einzuhalten, ist es auch empfehlenswert, die Kinder beim Einhalten zu loben. Selbstverständlich sind Regeln immer auch den familiären, individuellen und kulturellen Gegebenheiten anzupassen.

Dieser Artikel ist erstmals im Tages-Anzeiger vom 3. September 2021 erschienen

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Bildschirmzeit für Eltern

Brauchen auch Eltern feste Bildschirmzeiten?

Netflix schauen während dem Stillen und auf dem Spielplatz kurz auf Insta: Worauf Eltern als Vorbilder achten sollten.

Liebes Mamablog-Team, immer wieder lese ich in letzter Zeit, dass wir als Eltern schon möglichst früh darauf achten sollten, das Handy nicht ständig zu benutzen. Beziehungsweise, dass sich unser Auf-den-Bildschirm-Starren bereits negativ auf Babys und Kleinkinder auswirken kann. Gibt es dafür Belege? Denn ich muss zugeben: Seit meine Tochter vor acht Monaten auf die Welt gekommen ist, ist mein Handykonsum bestimmt nicht weniger geworden. Beispielsweise habe ich auch während dem Stillen die Zeit genutzt, um kurz bei Insta vorbeizuschauen oder auch mal eine Serie auf Netflix zu schauen. War ich ihr damit bereits ein schlechtes Vorbild? Leserfrage von Vanja

Liebe Vanja, danke für Ihre Frage. Es ist tatsächlich so, dass Eltern immer besser und kompetenter darin werden, die Bildschirmzeit der Kinder zu kontrollieren. Viele Apps stehen zur Beschränkung und Überwachung der Bildschirmnutzung zur Verfügung (Bildschirmzeit heisst die native App von Apple, Digital Wellbeing diejenige von Google). Um Nutzungsverträge zwischen Eltern und Kinder zu erstellen, empfehle ich die Webseite mediennutzungsvertrag.de, mit der Sie im Handumdrehen einen fairen und gegenseitig verbindlichen Vertrag erstellen können.

Es geht um die Qualität von Aufmerksamkeit

Doch wie sieht es eigentlich mit unserer elterlichen Vorbildrolle aus? Im Vergleich zu den immer zahlreicheren technologischen Kontrollmöglichkeiten von Eltern (böse Zungen behaupten, das Geschäftsmodell von Silicon Valley beruhe darauf, selbst geschaffene Probleme zu lösen), gibt es zum Thema elterliche Vorbildfunktion kaum wissenschaftliche Erkenntnisse oder gar Apps.

In der Forschung spricht man häufig von «Technoference» und von «Phubbing». «Technoference» kommt von «Technological Interference» und beschreibt die Unterbrechung eines menschlichen Kontaktes durch die meist impulsive Nutzung von Bildschirmmedien. Auch «Phubbing» ist eine moderne Fusion der englischen Wörter «Phone» und «Snubbing» (brüskieren, verächtlich behandeln, vor den Kopf stossen). Beide Begriffe stehen also für einen zumeist bewussten Vorzug des Handys gegenüber einer aktuellen, persönlichen Interaktion. Wir sprechen hier von den zahllosen «ich chume grad», «wart schnäll», die wir uns als Antwort von beschäftigten «Screenagern» gewohnt sind.

Widerstehen Sie dem Bildschirm und lassen Sie Ihr Kind das Tal der Langeweile alleine durchschreiten.

Inwieweit dieses Verhalten einem von uns Eltern vorgelebten Lebensstil nachahmt, ist die Kernfrage eines noch sehr jungen Forschungszweiges, dem sich auch Eva Unternährer von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel widmet. Es geht grundsätzlich nicht nur um einen bewussten Gebrauch unserer Aufmerksamkeit, sondern explizit auch um die Qualität der Aufmerksamkeit zwischen Eltern und Kindern.

Ein Kleinkind spürt schon sehr früh, ob ein «Wow, so schön!» der Eltern als Reaktion von infantilem Gekritzel ernst gemeint ist oder nicht. Zunehmende Evidenz von Forschungen bestätigen, dass ein regelmässiges «Phubbing» von Eltern einen negativen Einfluss auf die Eltern-Kind-Beziehung hat. So kann diese Beziehung sowie auch das Selbstwertgefühl von Kindern durch anhaltende «Technoference» geschwächt werden. Dies wiederum kann einen erhöhten Medienkonsum zur Folge haben und somit zu einem intergenerationellen Teufelskreis werden. Die Mechanismen, welche hier eine Rolle spielen, sind jedoch noch weitgehend ungeklärt und werden aktuell von Eva Unternährer und ihrem Team erforscht.

Drei Kategorien von Medienerziehung

Die allermeisten Eltern wollen nur das Beste für die Kinder und wollen sie auch so heil wie möglich durch den Dschungel der digitalen Medien führen. Man unterscheidet hier zwischen drei Kategorien elterlicher Medienerziehung. In der aktiven Mediation wird die kritische Auseinandersetzung von Mediennutzung und Inhalten betrieben. Heisst: Mami und Papi interessieren sich für «soziale» Medien und Games, stellen neutrale Fragen an die Kinder und erzeugen so gegenseitig konstruktive Diskussionen. Die zweite Kategorie ist das Co-Viewing, wo gemeinsame Bildschirmzeit verbracht wird und elterliches Eingreifen nur stattfindet, wenn es Zeit fürs Bett ist oder wenn nicht altersgerechte Inhalte konsumiert werden. Die dritte Kategorie aus der Sicht der Forschung ist die restriktive Mediation, wo der Zugang zu Bildschirmmedien entweder technisch oder mit verbindlichen Richtlinien geregelt ist.

Soviel zur aktuellen Lage der Forschung. Erfahrungsgemäss liegt es an uns Eltern, den für unsere Familie besten Mix der drei Kategorien zu finden. Unterschätzen Sie dabei nie Ihre eigene Medienkompetenz, die vom Bauchgefühl oder vom gesunden Menschenverstand kommt.

Denken Sie auch an die digitale Hygiene

Wir sind als Gesellschaft einer ungeheuerlichen Explosion von Informationen ausgesetzt, vor der wir uns einzig mit einem umsichtigen Umgang mit unserer eigenen Aufmerksamkeit schützen können. Ein Tipp: Führen Sie zum schon bestens eingeübten Händewaschen vor dem Essen auch digitale Hygieneregeln ein. Handys (auch diejenigen von uns Eltern) sollten am besten ausser Reich-, Sicht- und Hörweite sein, wenn wir Zeit mit unseren Liebsten verbringen möchten. Und die digitale Hygiene sollte der Körperhygiene in nichts nachstehen. Dies hilft uns modernen Eltern in unserer Vorbildfunktion als Aufmerksamkeitsmanager.

Gleichzeitig gibt es nichts Verwerfliches, wenn Sie Ihren Hochzeitstag im Lieblingsrestaurants feiern und dabei Ihr Kind bewusst mit Tablet und Kopfhörern «ruhigstellen». Dies sollte jedoch vorgängig erst unter Eltern und dann auch mit dem Kind besprochen und als Ausnahme deklariert werden.

Anders ist es, wenn wir uns selbst beim Aushändigen von Handys und Tablets ertappen, um dem notorischen «aber ich weiss nöd was mache» entgegenzuwirken. Hier will das Kind vielfach nicht nur unsere totale Aufmerksamkeit, sondern auch unsere Rolle als Animatoren. Falls wir weder Zeit noch Lust haben, in eine solche Rollen zu schlüpfen (was ab und zu total okay ist), dann sollten wir im gleichen Zug auch die Akzeptanz der Langeweile mitnehmen. Widerstehen Sie dem Bildschirm und lassen Sie Ihr Kind das Tal der Langeweile alleine durchschreiten – denn es ist das Vorzimmer der Kreativität. Die inneren Bilder ihres Kindes werden wach und die tollsten Ideen, Spiele und Kreationen entstehen.

Die Kunst und individuelle Herausforderung liegt also darin, die für uns wie auch für unsere Kinder ideale Bildschirmzeit zu finden, die uns weiterbringt und inspiriert, jedoch unsere eigene Imagination nicht unterdrückt. Probieren Sie dies doch einfach auch selbst wieder einmal aus.

Falls Sie interessiert sind, an vorderster Front der Medienerziehungsforschung mitzumachen und Kinder zwischen 2 bis 16 haben, können Sie an dieser Studie der Universität Basel mitmachen.

Dieser Artikel ist erstmals im Tages-Anzeiger erschienen am 09.07.2021, 05:30

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Was Eltern über TikTok wissen sollten

Ich war ja ohnehin schon ziemlich skeptisch gegenüber TikTok eingestellt, da unsere Zwölfjährige meiner Ansicht nach zu viel Zeit mit dieser App verbringt. Der Feed ist ja quasi endlos und inszenieren tun sich vorwiegend Menschen mit einem besonders grossen Geltungsdrang und sehr bescheidenen Talenten, nicht?

Als ich nun noch gelesen habe, dass TikTok beispielsweise schwul-lesbische Inhalte blockiert und kaum etwas für den Jugendschutz tut, nervt mich das Ganze noch mehr. Was muss man als Eltern sonst noch über TikTok wissen? Leserfrage von Denise aus Kloten

Liebe Denise, TikTok ist in der Tat die zurzeit trendigste soziale Plattform für Kinder und Jugendliche in der Schweiz wie auch weltweit. Obwohl die Altersbegrenzung ab 13 Jahren ist, wird die Plattform auch von jüngeren Kindern rege benutzt. Unter den zwölf- bis neunzehnjährigen Schweizer Jugendlichen benutzen über die Hälfte mehrmals wöchentlich TikTok. Nur Instagram, Snapchat und WhatsApp sind noch beliebter. Falls der Trend von TikTok anhält (alles deutet momentan darauf hin), könnte TikTok schon bald zur meistgenutzten App von Schweizer Jugendlichen werden.

Zuerst unter dem Namen Musica.ly gegründet, erlaubte die App das Kreieren von 15-30 Sekunden Lip synch (Lippensynchronisation), Videoszenen mit bekannten Songs. 2018 wurde Musical.ly in die TikTok-App integriert. Diese wird momentan in 150 Ländern von über einer Milliarde Menschen benutzt. Ich möchte in diesem Artikel weniger auf die vielen Features der Plattform eingehen (dazu gibt es viele Youtube Videos), sondern mich auf die Chancen und Risiken in der Medienerziehung konzentrieren.

Kreativität als Chance

TikTok ist gerade für Jugendliche sehr einfach zu benutzen und erlaubt es, innert Kürze coole Videos zu erstellen. Dazu stehen unzählige Effekte und Filter zur Verfügung. Auch Hintergrundfarben und Texte können den Videokreationen nachträglich beigefügt werden. Videos können verlangsamt oder auch im Zeitraffer publiziert werden. Auch Fotogalerien können musikalisch unterstützt zu Videos verarbeitet werden, sodass der Fantasie und Videokunst der Jugendlichen keine Grenzen gesetzt sind.

Jugendliche, die TikTok aktiv und kreativ nutzen, lernen dabei spielerisch, wie man attraktive Videoszenen erstellt. Sie müssen sich die Szenen ausdenken, sich organisieren, einüben und dann filmen. Zum organisatorischen Teil gehören auch die Requisiten, die für die ausgedachte Szene gesucht und ausgewählt werden müssen. Auch strategische Überlegungen hinsichtlich des Zielpublikums sind notwendig. Ist die Szene einmal gefilmt, vielfach erst nach Dutzenden von Drehversuchen, ist es wiederum den kleinen Realisatoren überlassen, mit welchen Post-Production-Sounds, Effekten und Texten die Szene ausgestattet wird, um die erhoffte Wirkung zu erzielen.

Kurz gesagt, TikTok ist eine unwahrscheinlich attraktive Plattform, die es Kindern und Jugendlichen erlaubt, ihre Kreativität voll auszuleben, dabei ihre Videoproduktionstalente selbst zu entdecken und ständig weiterzuentwickeln. Da sich diese äusserst leistungsfähige Videoproduktionsmaschine gratis direkt in 99 Prozent der Hosentaschen unserer Jugendlichen installieren lässt, sollte es uns auch nicht überraschen, dass dessen Nutzungsdauer und Frequenz gerade in Lockdown-Zeiten rasant in die Höhe geschnellt ist. Als Eltern sollten wir an dieser Stelle die technologisch hoch komplexe Plattform entsprechend würdigen und TikTok als kreativitätsfördernde und multimediale Lernstätte loben.

Vermeiden Sie, die Plattform pauschal zu verdammen oder zu ächten, nur weil es leider auch möglich ist, neonazistische Inhalte, Suizid-Aufforderungen oder Folterszenen hochzuladen. Mit der gleichen Argumentation müssten wir sofort sämtliche Sandkästen auf öffentlichen Spielplätzen schliessen, da man in solchen Einrichtungen ja auch Tretminen und vergiftete «Schleckstengel» verstecken könnte.

Die Pille gegen Langeweile

Die Millionen von nutzergenerierten Videoclips sind verständlicherweise ein unersättliches Reservoir an Unterhaltung, um möglichst jeden vermeintlich toten Moment zu vermeiden. Stellen wir uns eine immer volle Packung an Gummibärchen vor, bei der wiederum jedes Gummibärchen ein 15-sekundenlanges TikTok-Video repräsentiert. Ja, auch die Nährwerte sind vergleichbar.

Die TikTok-Algorithmen finden innert weniger Minuten heraus, welche Gummibärchen ihrem Kind am besten schmecken und füttern es dann Tag und Nacht. Einen «jetzt isch gnueg!»-Reflex bei den Gummibärchen empfinden wir als natürlich. Bei TikTok sollte sich dieser genauso selbstverständlich einstellen, was er aber häufig nicht tut. Nutzen Sie daher unbedingt das Bildschirmzeit-Management und die Inhaltsfilterfunktionen der App (Sektion Digital Wellbeing).

Viele Jugendliche bestätigen mir zudem, dass sie TikTok als puren Zeitvertreib und als Prävention gegen Langeweile nutzen. Während den Gesprächen mit Jugendlichen realisieren sie oft, dass ebendiese Langeweile eine Grundbedingung für ihre eigene Kreativität ist.

Zehn Mal mehr Konsumenten als Produzenten

Das Verhältnis zwischen kreativen Videoproduzentinnen und passiven Videokonsumenten ist ähnlich gelagert wie bei Youtube oder anderen Plattformen und liegt bei etwa 10:1. Das heisst, auf zehn passive Videoguckerinnen kommt ein Videoproduzent, Tendenz abnehmend. Mit anderen Worten ist es zehn Mal wahrscheinlicher, dass die im ersten Paragrafen hochgelobte Brutstätte der Kreativität in Realität eine endlose Schleuder von raffiniert ausgewählten Inhalten ist, um ihr Kind so lange wie möglich vor dem Bildschirm zu halten.

Ohne elterliche Unterstützung sind Kinder also dem Sog der perfekt abgestimmten Videolawine hilflos ausgesetzt. Wer in den Nutzungsbedingungen von TikTok Hilfe sucht, wird unter anderem mit diesen ernüchternden Worten empfangen:

Sie betrachten die Inhalte auf eigene Gefahr. Die Inhalte unserer Dienste werden ausschliesslich zur allgemeinen Information bereitgestellt. Sie sind nicht als Beratung gedacht, auf die Sie sich verlassen dürfen. Bevor Sie auf der Grundlage der Inhalte der Dienste Massnahmen ergreifen oder unterlassen, müssen Sie eine professionelle oder fachkundige Beratung in Anspruch nehmen.

Nutzung auf eigene Gefahr

Es ist sicher von Bedeutung, dass TikTok als einzige der global grössten «sozialen» Plattformen einer chinesischen Firma gehört. Mit einer ernüchternden Selbstverständlichkeit haben wir uns längst damit abgefunden, unsere Daten mit US-amerikanischen Unternehmen zu teilen. Dies, obwohl wir grösstenteils weder über die technischen Kompetenzen noch über das Vorstellungsvermögen verfügen, wer was wann und wo mit diesen Daten anstellt.

TikTok gehört der Firma Bytedance mit Sitz in Peking. Die Firma hat rund 60’000 Mitarbeitende und erzielt über zwanzig Milliarden Dollar Jahresumsatz. Da jede chinesische Firma dieser Grösse der kommunistischen Partei einen internen Sitz zur Verfügung stellen muss, muss davon ausgegangen werden, dass die Daten systematisch zu politischen Zwecken genutzt werden. So finden wir auch folgenden Satz in den Nutzungsbestimmungen von TikTok: Sie verzichten weiter (soweit gesetzlich zulässig) im Zusammenhang mit Ihren Nutzerinhalten oder Teilen davon auf alle Rechte auf Privatsphäre, Persönlichkeitsrechte oder andere Rechte ähnlicher Art.

In diesem Sommer wurden die Nutzungsbestimmungen in den USA übrigens so angepasst, dass TikTok auch biometrische Daten wie Gesichtserkennung und Stimmerkennung auswerten kann. Angesichts des Sozialkreditsystems, mit dem die chinesische Regierung ihre Bevölkerung durch totale Überwachung in ein Punktesystem einbindet, müssen wir unbedingt hellhörig werden. Ein komplettes Löschen der App ist leider das einzige Mittel zur Abwehr.

Dieser Artikel wurde erstmals im Tages-Anzeiger vom 29. Oktober publiziert.

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«Isch er nöd en Schnügel?»

Einige Eltern kennen beim «Sharenting» kaum Grenzen. Hier sind Gründe, warum sie das Posten von Kinderbildern besser lassen sollten.

Liebes Mamablog-Team, seit meine Schwester vor drei Jahren Mutter geworden ist, postet sie beinahe täglich Bilder ihrer Tochter auf Social Media: Ihre Tochter beim Mittagsschlaf, beim Essen, auf dem Laufrad, im Schnee – selbst beim Zähneputzen wird sie gezeigt. Ich finde, sie geht damit einen Schritt zu weit (was ich ihr auch sage). Ihre Kleine hat ja überhaupt keine Chance, «Nein» zu sagen. Was, wenn ihr die Bilder später peinlich sind? Gibt es denn überhaupt keine gesetzliche Handhabung, die Kinder davor schützen, sie auf Social Media zu «inszenieren»?
Leserfrage von Laura, 37 aus Zürich.

Liebe Lara, besten Dank für Ihre gute Frage. Um die kurze Antwort gleich vorweg zu nehmen: Ja, es gibt ein Gesetz zum Schutz der Privatsphäre von Kindern. Die UN-Kinderrechtskonvention feierte soeben ihr dreissigjähriges Bestehen und gilt auch für die Schweiz. Darin ist in Artikel 16 festgelegt, dass kein Kind «willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung oder seinen Schriftverkehr oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden darf». Kinder sind übrigens Menschen von null bis 18 Jahren. Soweit mal zum rein Juristischen.

Natürlich ist die Lage um einiges komplexer.

Es gehört nun mal zum Elternsein, dass wir auf unsere Sprösslinge stolz sind. Und dies gilt noch viel mehr für First-Time-Parents. Ich war felsenfest überzeugt, dass unser Erstgeborener mit grösster Wahrscheinlichkeit das schönste Kind ist, zumindest westlich vom Kaukasus, das je geboren wurde. Ich führte sogar eine Excel-Tabelle mit den Messdaten des Kopfumfangs und der Grösse unseres Sprösslings, um mich zu vergewissern, dass das Wachstum unseres kleinen Wunders perfekt proportional verläuft. Zwei Jahre später, nach der Geburt unserer Tochter, haben wir sie beiläufig und anstandshalber zweimal auf der Gemüsewaage bei der Italienerin im Quartier gewogen. Soweit zu unserer unausweichlichen und wahrscheinlich angeborenen Blindheit für jegliche Objektivität, solange wir im Banne unseres Nachwuchses stehen.

Elternstolz will geliked sein

Demgegenüber steht die soziale Norm, die es einem schlichtweg verbietet, ganz ehrliche Antworten auf Babyfotos zu geben. Wer hat schon jemals ein «Nein, wirklich nicht!» als Antwort gegeben, als ihr ein Smartphone mit Babyfotos und der obligatorischen «Isch er nöd en Schnüggel»-Tonspur unter die Nase gehalten wurde? Elternstolz ist also so natürlich wie die gesuchte Anerkennung im Freundeskreis über unsere freudigen Sprösslinge.

Die Kombination von hochauflösenden Smartphonekameras, 24/7-Internetzugriff und «sozialen Plattformen» ist hier quasi die ultimative Waffe, die uns Eltern eine Hebelwirkung bietet in unserem vorprogrammierten Sammeleifer von «jöö-so-herzig»-Bestätigungen. Wir wollen alle geliked werden und Babyfotos gehören nun mal zu den effizientesten Strategien, um Aufmerksamkeit und Sympathien zu generieren. Da das ganze Business-Modell der «sozialen» Medien darauf beruht, unser menschliches Grundbedürfnis der sozialen Anerkennung auszunutzen und zu monetisieren, ist es für uns fast unmöglich, der Versuchung zu widerstehen.

Gefährlicher digitaler Footprint

Das neue Phänomen von teilfreudigen Eltern nennt sich «Sharenting». Die Problematik liegt darin, dass wir Eltern die Lebensnarration unserer Sprösslinge wortwörtlich aufgleisen und online zementieren, lange bevor sie sich ihre eigene Identität bilden. Getrieben von unserem eigenen Bedürfnis, geliked zu werden, erfinden, erzählen und verkaufen wir die Geschichte unserer Kinder, ohne sie zu fragen. Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass unser Sorgerecht uns die Freiheit gibt, die Privatsphäre des Kindes frei zu gestalten, zumal es noch zu jung ist, sich zu wehren – geschweige denn, die längerfristigen Konsequenzen zu verstehen.

So kann aus der herzig verzerrten Grimasse eines Kleinkindes plötzlich eine Mobbing-Vorlage in der Sekundarstufe werden.

Es kommt immer öfters vor, dass Teenager dem von uns Eltern vorgegebenen digitalen Fussabdruck nicht folgen wollen, können oder mögen. Dies führt unweigerlich zu schwierigen Fragen, gefolgt von peinlichen Erklärungsversuchen und Unstimmigkeiten. Jugendliche, die ihre eigenen Eltern wegen Missachtung ihrer Privatsphäre eingeklagt haben, gab es bisher nur aus mangelnder gesetzlicher Grundlage nicht. Es ist jedoch ein ungeschriebenes Gesetz, dass jeder digitale Inhalt irgendwann, irgendwo von irgendwem aus dem Kontext gezogen wird und anders interpretiert werden kann. So kann aus der herzig verzerrten Grimasse eines Kleinkindes (geschweige denn Fötelis mit Windeln in verschiedenen Abnutzungsstufen) plötzlich eine Mobbing-Vorlage in der Sekundarstufe werden. Einmal im Netz, immer im Netz.

Passwort geschützte Familienalben als Alternative

Eine generelle Datensparsamkeit ist sicher vorteilhaft – sowohl für uns Eltern, als auch für unsere Kinder. Gemäss einer englischen Studie werden im Durchschnitt 1500 Fötelis von den eigenen Kids gepostet, bevor diese fünf Jahre alt sind.

Es ist empfehlenswert, dass wir unsere Kinder so früh wie möglich um ihre Einwilligung fragen, bevor wir drauflosposten. Und wie wäre es, wenn wir gänzlich aufs öffentliche Posten verzichteten, solange wir den Kindern die Konsequenzen nicht erklären können bzw. letztere sie noch nicht verstehen können? Online Familienalben sind genial, gehören aber generell Passwort geschützt. Unsere Zoom-Familien-Weihnachten zwischen Chile, Kanada und der Schweiz war übrigens ein Riesenerfolg. Drei Generationen scrollten zusammen durch das digitale Familienfotoarchiv, was uns die trübe
COVID-Abstandsrealität für einen Moment gänzlich vergessen liess.

Dieser Artikel wurde erstmals im Tages-Anzeiger vom 15. Januar 2021 publiziert.

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Wie kriege ich meinen Sohn vom Bildschirm weg?

Handyentzug, Internetzugang abschalten: Wie sollen Eltern damit umgehen, wenn das Kind gamesüchtig ist?

Liebes Mamablog-Team, heute morgen bin ich schon wieder mit der Gamekonsole meines Zwölfjährigen in der Tasche ins Büro gegangen. Das kommt in letzter Zeit öfter vor. Ich bin alleinerziehend, und mein Sohn ist jeweils an zwei Tagen die Woche während drei Stunden alleine zu Hause. In dieser Zeit hat er letztlich nur eines im Sinn: Gamen. Allem voran das Ballergame«Fortnite». Wenn ich mit anderen Müttern darüberreden, zucken die meisten nur die Achseln mit Bemerkungen wie «Jungs sind eben so, dass wird sich schon wieder legen». Ich will mich aber weder damit anfreunden, dass mein Sohn so viel Zeit mit Gamen verbringt, noch mit den Inhalten dieser Spiele. Wie kann ich ihm verständlich machen, dass das auch nur zu seinem Guten ist? Pia aus Zürich

Liebe Pia, danke für Ihre Frage. Hier einige Gedanken und Erfahrungen rund ums Gamen, insbesondere auch zum nach wie vor sehr populären «Fortnite»-Spiel. Es sind schon sehr bizarre Zeiten, die wir gerade durchleben. Maskiert und mundtot hocken wir im Morgentram, die Ohren mit zigarettenstummel-ähnlichen Plastikteilen verstopft, regungslos auf ein leuchtendes, elektronisches Rechteck starrend. Draussen fährt das Leben an uns vorbei, wir horchen dem Youtube-Autoplay-Modus und schauen das nächste Video.

Raus aus der trüben Realität

In solchen Zeiten bieten sich Videogames als Alternative an. Nix wie weg von diesem komischen Corona-Leben, rein in die bunte, spannende und immer belohnende Welt der Games. Zu erwarten, dass unsere Kinder dieser jederzeit und überall bereitstehenden Einladung widerstehen und freiwillig in unsere trübe Realität zurückkommen, ist doch schon sehr viel verlangt. Liegt es nicht vielleicht an uns, zusammen mit unseren Kindern in deren Welt zu gehen? Sollten wir nicht zumindest versuchen zu verstehen, wie die Welt unserer Kinder aussieht (mehr dazu hier)?

Nein, ich war nie ein richtiger Gamer und hatte immer eine gesunde Abscheu vor «Ballergames». Bis heute habe ich es nie geschafft, stundenlang in die Computerspielewelt abzutauchen. Ich bin vielmehr fasziniert von der Faszination meiner Kinder und deshalb motiviert, diese Faszination besser zu verstehen. Games sind Orte, soziale Erlebnisse, fantastische Erlebniswelten und perfekt inszenierte Plattformen, die praktisch sämtliche menschlichen Bedürfnisse im Sekundentakt befriedigen.

Verhaltensforscher, Psychologinnen, Persuasive-Design-Entwickler und Marketingprofis sorgen dafür, dass Games wie auch «soziale Plattformen» so schnell wie möglich so süchtig wie möglich machen. Und wir Eltern sind dazu verdammt, einerseits die Kinder spielen zu lassen, andererseits sie vor den clever designten Suchtfallen zu schützen (mehr dazu hier).

Ich schlage vor, diese zugegebenermassen schwierige Herausforderung zweizuteilen und als gegenseitig bereichernder Dialog zu gestalten.

Was machst du da genau?

Von vielen Games habe ich keine Ahnung. Und das ist gut so. Denn es motiviert mich, Kindern und Jugendlichen viele Fragen zu stellen. Was ist deine Mission im Spiel? Wie lange dauert ein Spiel? Wie gewinnst du Punkte? Was gibt es für Belohnungen, und was musst du dafür machen? Wirst du auch bestraft für gewisse Taten? Spielst du alleine oder in einem Team? Was für Waffen brauchst du und warum? Musst du für diese etwas bezahlen? Was fasziniert dich am meisten beim Spiel? Wie fühlst du dich vor/während/nach dem Spiel?

Bei all diesen Fragen geschieht etwas Magisches. Das Kind fühlt sich ernst genommen und freut sich über die ungeteilte Aufmerksamkeit, die es erhält. Quasi als Dank unseres Interesses erklären und erzählen junge Gamer ihr Leben und Leiden in ihrer digitalen Parallelwelt. Und genau da wird es dann wirklich spannend.

Wo braucht es mich?

Jetzt sind wir dran, denn die letzten paar Fragen sind ja nicht mehr sogenannte «Anwenderkompetenzen», sondern es geht vielmehr darum, was das Spiel mit dem Kind macht. Jetzt hat das Kind seine Igelposition verlassen und ist bereit für eine Diskussion über die zerbrochenen Bleistifte und Lineale, die als Game-Agressionsabbau hinhalten mussten. Sobald wir Kinder und Jugendliche in ihrer Gamewelt ernst nehmen, anstatt sie mit unseren Vorurteilen zu bombardieren, entstehen wunderbar bereichernde Gespräche über Werte, Moral, Ethik bis hin zu Philosophie. Warum hast du Mühe, aufzuhören? Wieso willst du dir diese zehnfränkige «Skin» kaufen? Wie viel glaubst du, ist diese wirklich wert? Was ist das Coole am Game? Solche offene Fragen erlauben uns, den Anschluss zu finden und Einfluss zu nehmen.

Ja, tönt alles so gut wie theoretisch, hör ich Sie sagen. Selbstverständlich liegt die Erziehungsautorität nach wie vor bei uns. Handyentzug, Internetzugang abschalten, Ladekabel verstecken usw. geht für mich voll in Ordnung, um übermässigem Gamen oder Chatten ein Ende zu setzen – solange zumindest ein konstruktiver und ehrlicher Dialog stattgefunden hat.

Dieser Artikel ist erstmals am 9. Oktober 2020 im Tages-Anzeiger erschienen

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Digitales Zeitalter der Beleidigungen

Von Trump bis Greta: Warum wir mit unseren Kindern über Onlineethik sprechen sollten.

Es hat etwas Surreales an sich. Während Schulleiter, Sozialpädagogen und Fachpersonen für Medienkompetenz mehr denn je über die Gefahren und teils fatalen Folgen von Sexting, Cybermobbing und unüberlegtem Nutzen von digitalen Medien unterrichten, beleidigen und demütigen sich die mächtigsten Männer der Welt via soziale Medien vor den Augen der Weltöffentlichkeit.

Gegen die rüpelhaften und respektlosen Tweets des amtierenden Präsidenten der USA, scheint sich die Welt leider bereits abgestumpft zu haben. Ein Zeichen davon ist die steigende Zahl anderer hochrangiger Politiker, die im Kielwasser seines schlechten Geschmacks Beleidigungen tweeten, die mich sprachlos machen und leer schlucken lassen. So bringt es Herr Bolsonaro, seines Zeichens brasilianischer Präsident, tatsächlich fertig, Herrn Emmanuel Macron via Twitter über das Aussehen seiner Frau zu beleidigen und gleichzeitig über seine jüngere First Lady zu prahlen.

Und als ob dies nicht genug des flegelhaften Benehmens wäre, gibt sich Herr Bolsonaro beleidigt vom kolonialistischen Gehabe des französischen Präsidenten und erwartet von diesem eine Entschuldigung, bevor er bereit ist, internationale Hilfe zur Löschung von Waldbränden im Amazonasgebiet anzunehmen. Ja, natürlich ist dies zumindest die Erzählung, die wir von den Mainstream-Medien erhalten.

Die Pest der glorifizierten Selbstdarstellung

Scheinbar gerechtfertigt vom rasant dahinschmelzenden Anstand und Respekt dieser Herren brachte es der Fox-News-Reporter Michael Knowles tatsächlich fertig, Greta Thunberg vor laufender Kamera als «mentally ill Swedish child» abzukanzeln.

Ich habe immer mehr das Gefühl, dass wir als Gesellschaft die Macht und die genialen Vorteile der digitalen Medien nicht verstanden haben. Anstatt als Kollektiv das direkte, weltumspannende Netz der Kommunikation zu nutzen, um uns weiterzuentwickeln und unser Wissen zu teilen, scheint die Pest der glorifizierten Selbstdarstellung und der Echtzeit-Beleidigungen Überhand zu nehmen. Getrieben durch clevere Algorithmen, die unser basales Bedürfnis nach Anerkennung schamlos ausnützen und uns auf der Jagd nach Likes Anstand abwerfen lassen, wird das Netz zunehmend zum Zeugnis eines beschämenden Verhaltens unserer Spezies. Um Shares, Views und Likes zu generieren, müssen wir immer schriller und lauter schreien, damit wir im infernalen Lärm des Netzes überhaupt wahrgenommen werden. Da das Geschäftsmodell der sozialen Medien darauf beruht, den von uns selbst produzierten, beworbenen und vertriebenen Inhalt zu monetarisieren, geht die Rechnung auf, zumindest für Facebook & Co.

Unser aller Kollateralschaden

Den kollateralen Schaden, den wir individuell wie auch als Gesellschaft davontragen, zeichnet sich zunehmend in Form von Depression, Überreizung, Stress und Vereinsamung ab. Wir scheinen nach wie vor nicht verstehen zu wollen, dass das Internet vor allem als ein Verstärker und Beschleuniger funktioniert, der unser Hier und Jetzt auf radikale Art aushebelt. Der Schutz des Hier (im Hinterhof der Schule) und Jetzt (was ich sage, ist flüchtig und verstummt sofort) ermöglichte ein respektloses Verhalten mit begrenzten Folgen und Risiken, zumindest für den Täter. Durch die immer bereite Handykamera wird alles gefilmt, hochgeladen, geteilt und auf unbestimmte Zeit gespeichert.

Was wir brauchen, sind kritische Gespräche zur Onlineethik. Eltern-Kinder-Gespräche über die Nutzung von digitalen Medien. Greta ist ein Vorbild und die Hoffnung unserer Kinder. Und eine wunderbare Einladung, gegenseitig bereichernde Gespräche über Werte, (mediale) Inszenierung und Wahrnehmung zu diskutieren. Während wir Eltern unbedingt den Kindern zuhören und von ihrem cleveren technischen Verständnis profitieren sollten, können Jugendliche von uns das Abschätzen von Risiken sowie das kritische Hinterfragen und Durchdenken von Konsequenzen lernen – allesamt Fähigkeiten, die ein gewisses Alter voraussetzen. Es sei denn, wir heissen Trump oder Bolsonaro.

Dieser Artikel ist erstmals im Tages-Anzeiger vom 10. Oktober 2019 erschienen. https://blog.tagesanzeiger.ch/mamablog/index.php/84803/digitales-zeitalter-der-beleidigungen/

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Upscale Zurich neighbourhood gets Louis Vuitton sewers

This morning, I went for my weekly run around Zurichberg neighborhood which is pretty much to the city of Zurich what Beverly Hills is to L.A. There is an urban legend saying that the name of the city comes from the combination of the German „zu“ and the English „rich“, meaning „too rich“.

Zurich is world-reknown not only for its always-on-time trams and trains but also for its world class urban infrastructure. To the opposite of the North-American why-fix-if-it-ain’t-broken mentality, Zurich loves to fix almost perfect stuff to make sure it is perfect. And if you think this culture of perfection is limited to the squeaky clean sidewalks and the ridiculously smooths surface of the streets, think again. Click at the picture I took during my Sunday run: one of the main roads through Zurich’s exclusive district 7 gets a brand new sewage system. I guess the old one will be dissembled and sold to New York City or Philadelphia because it surely can transport human ordure for many years to come. What stroke me was the super shiny, high class ceramic pipes that the city chose for the feces of its wealthiest citizens. I stopped in awe to take a closer look.

And that is when I saw the discreet Louis Vuitton logo on the pipes! „C’mon“, I said, rubbing my eyes in disbelieve. I was not aware either that the French luxury brand had diversified into other consumer markets. But then again, am I surprised that even shit gets a royal treatment in Zurich? Not really. As from now on, taking a dump will feel so much better. I am sure it won’t be long to see hip Airbnb penthouses in the neighborhood bragging with Louis Vuitton highspeed fecal pipes.

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Unsinniges Influencer-Bashing

Influencer-Bashing ist gerade hoch im Kurs. Es scheint voll okay, Influencer als In-Fulenzer abzustempeln, als arbeitsfaule Pseudoinhaltsproduzenten zu belächeln oder als verkleidete Schleichwerber zu beschimpfen.

Der Begriff Influencer selbst ist eine Erfindung der Werbeindustrie, die sich seit eh und je gezwungen sieht, maximale Reichweite innerhalb einer Zielgruppe zu möglichst geringen Kosten zu erzielen. Die ersten Blog-Plattformen waren gleichzeitig die Geburtsstunde von «Influencern». Aus der Ich-Perspektive geschriebene und bewusst meinungsbetonte Artikel sind bis heute die klaren Abgrenzungsmerkmale zu traditionellem journalistischem Inhalt.

Natürlich ging es nicht lange, bis die Marketing-Gurus die glaubwürdigsten und engagiertesten Blogger über Skateboard, Cybersecurity, Make-up oder Yoga als Werbeplattform entdeckten. Und wer konnte es den nahe am Hungertod lebenden, aber umso leidenschaftlicher schreibenden Bloggern übelnehmen,
gegen eine ehrliche und offen deklarierte Product-Review ein paar Dollars einzustecken?

Blogger versus Milchverband

Im Gegensatz zum Schweizer Gesetz gilt in den USA seit 2009 eine strikte Deklarationspflicht von gesponsorten Inhalten von Bloggern bzw. «Influencern». Grundsätzlich ist jeder Blogger eine engagierte Person, die ehrenamtlich sehr viel Zeit, Aufwand und eben Leidenschaft für ein gewisses Thema aufbringt. Ein Mensch, der auf eine gewisse Privatsphäre verzichtet und den Mut hat, eine öffentliche Meinung respektierlich zu vertreten, verdient grundsätzlich Respekt.

Vielleicht mehr Respekt als andere «Influencer» wie der Fleischverband oder der Milchverband, die auf einer für öffentliche Schulen gedachten Plattform gebrandete Inhalte erstellen und diese ungeniert als «Lehrmittel» verkleiden. Im Unterschied zu Bloggern haben solche institutionelle Influencer immer kommerzielle Absichten (warum sonst würden sie denn für die Redaktion und Produktion des «Lehrmittels» zahlen?).

Lehrmittel-Check statt Influencer-Bashing

Eine Annäherung zwischen Schule und Privatwirtschaft auch in der Erarbeitung von Lehrmitteln macht durchaus Sinn, solange die Qualität und Objektivität jederzeit gewährleistet ist. Das interaktive Lehrmittel «Share your Risk» scheint eine durchaus gelungene Gamification, um Risikokompetenz zu vermitteln. Bezahlt dafür hat die Schweizerische Versicherungsgesellschaft.

Aber bekanntlich ist es ja so, dass, wer zahlt, auch befiehlt! Da wir die Blogger mit unserer Aufmerksamkeit bezahlen, genügt im Falle von mangelnder Qualität dessen sofortiger Entzug – Höchststrafe für «Influencer»! Falls unsere Primarschulkinder jedoch mit Lehrmitteln mit dem Namen «Milch in der Schule ist klasse!» konfrontiert werden, wäre volle Aufmerksamkeit verbunden mit kritischem Denken und sofortigem Hinterfragen angebracht.

Sollten wir, anstatt die hungernden «Influencer» zu bashen, unsere Aufmerksamkeit nicht vermehrt der fehlenden Objektivität von gesponserten «Lehrmitteln» widmen – und uns fragen, wie es überhaupt soweit kommen konnte?

Dieser Artikel ist erstmals am 15. November 2018 im Tages-Anzeiger erschienen.

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Walk Like An Egyptian

Last Saturday I assisted the Orchestre Symphonique de Montréal fabulously performing Brahms’s 1st Symphony. While reading through the printed program before the concert, one little footnote struck my attention: the detailed list of the 1st violins’ instruments including the luthier’s names and year of construction. Bergonzi 1744, Pietro Guarneri 1728, Carlo Tononi 1700 etc. Back home I calculated the average age of all listed instruments and got an impressive 261 years! Carlo Tononi’s perfectly crafted violin is 317 years old and still producing brilliant sounds. The average lifespan of a smartphone carrying on the violin’s sound is 4,6 years. Compare the two pieces of hardware and realize that the violin is 69 times (!) older than the ridiculously short living smartphone. To better understand this gap, I multiplied my own age of 47 years with the same factor of 69 and got thrown back to 1222 B.C., the golden age of ancient Egypt! Listening Brahms on my iPhone is somewhat like walking hand in hand with an Egyptian pharaoh. Sustainability sounds different.

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