Brauchen auch Eltern feste Bildschirmzeiten?
Bildschirmzeit für Eltern

Netflix schauen während dem Stillen und auf dem Spielplatz kurz auf Insta: Worauf Eltern als Vorbilder achten sollten.

Liebes Mamablog-Team, immer wieder lese ich in letzter Zeit, dass wir als Eltern schon möglichst früh darauf achten sollten, das Handy nicht ständig zu benutzen. Beziehungsweise, dass sich unser Auf-den-Bildschirm-Starren bereits negativ auf Babys und Kleinkinder auswirken kann. Gibt es dafür Belege? Denn ich muss zugeben: Seit meine Tochter vor acht Monaten auf die Welt gekommen ist, ist mein Handykonsum bestimmt nicht weniger geworden. Beispielsweise habe ich auch während dem Stillen die Zeit genutzt, um kurz bei Insta vorbeizuschauen oder auch mal eine Serie auf Netflix zu schauen. War ich ihr damit bereits ein schlechtes Vorbild? Leserfrage von Vanja

Liebe Vanja, danke für Ihre Frage. Es ist tatsächlich so, dass Eltern immer besser und kompetenter darin werden, die Bildschirmzeit der Kinder zu kontrollieren. Viele Apps stehen zur Beschränkung und Überwachung der Bildschirmnutzung zur Verfügung (Bildschirmzeit heisst die native App von Apple, Digital Wellbeing diejenige von Google). Um Nutzungsverträge zwischen Eltern und Kinder zu erstellen, empfehle ich die Webseite mediennutzungsvertrag.de, mit der Sie im Handumdrehen einen fairen und gegenseitig verbindlichen Vertrag erstellen können.

Es geht um die Qualität von Aufmerksamkeit

Doch wie sieht es eigentlich mit unserer elterlichen Vorbildrolle aus? Im Vergleich zu den immer zahlreicheren technologischen Kontrollmöglichkeiten von Eltern (böse Zungen behaupten, das Geschäftsmodell von Silicon Valley beruhe darauf, selbst geschaffene Probleme zu lösen), gibt es zum Thema elterliche Vorbildfunktion kaum wissenschaftliche Erkenntnisse oder gar Apps.

In der Forschung spricht man häufig von «Technoference» und von «Phubbing». «Technoference» kommt von «Technological Interference» und beschreibt die Unterbrechung eines menschlichen Kontaktes durch die meist impulsive Nutzung von Bildschirmmedien. Auch «Phubbing» ist eine moderne Fusion der englischen Wörter «Phone» und «Snubbing» (brüskieren, verächtlich behandeln, vor den Kopf stossen). Beide Begriffe stehen also für einen zumeist bewussten Vorzug des Handys gegenüber einer aktuellen, persönlichen Interaktion. Wir sprechen hier von den zahllosen «ich chume grad», «wart schnäll», die wir uns als Antwort von beschäftigten «Screenagern» gewohnt sind.

Widerstehen Sie dem Bildschirm und lassen Sie Ihr Kind das Tal der Langeweile alleine durchschreiten.

Inwieweit dieses Verhalten einem von uns Eltern vorgelebten Lebensstil nachahmt, ist die Kernfrage eines noch sehr jungen Forschungszweiges, dem sich auch Eva Unternährer von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel widmet. Es geht grundsätzlich nicht nur um einen bewussten Gebrauch unserer Aufmerksamkeit, sondern explizit auch um die Qualität der Aufmerksamkeit zwischen Eltern und Kindern.

Ein Kleinkind spürt schon sehr früh, ob ein «Wow, so schön!» der Eltern als Reaktion von infantilem Gekritzel ernst gemeint ist oder nicht. Zunehmende Evidenz von Forschungen bestätigen, dass ein regelmässiges «Phubbing» von Eltern einen negativen Einfluss auf die Eltern-Kind-Beziehung hat. So kann diese Beziehung sowie auch das Selbstwertgefühl von Kindern durch anhaltende «Technoference» geschwächt werden. Dies wiederum kann einen erhöhten Medienkonsum zur Folge haben und somit zu einem intergenerationellen Teufelskreis werden. Die Mechanismen, welche hier eine Rolle spielen, sind jedoch noch weitgehend ungeklärt und werden aktuell von Eva Unternährer und ihrem Team erforscht.

Drei Kategorien von Medienerziehung

Die allermeisten Eltern wollen nur das Beste für die Kinder und wollen sie auch so heil wie möglich durch den Dschungel der digitalen Medien führen. Man unterscheidet hier zwischen drei Kategorien elterlicher Medienerziehung. In der aktiven Mediation wird die kritische Auseinandersetzung von Mediennutzung und Inhalten betrieben. Heisst: Mami und Papi interessieren sich für «soziale» Medien und Games, stellen neutrale Fragen an die Kinder und erzeugen so gegenseitig konstruktive Diskussionen. Die zweite Kategorie ist das Co-Viewing, wo gemeinsame Bildschirmzeit verbracht wird und elterliches Eingreifen nur stattfindet, wenn es Zeit fürs Bett ist oder wenn nicht altersgerechte Inhalte konsumiert werden. Die dritte Kategorie aus der Sicht der Forschung ist die restriktive Mediation, wo der Zugang zu Bildschirmmedien entweder technisch oder mit verbindlichen Richtlinien geregelt ist.

Soviel zur aktuellen Lage der Forschung. Erfahrungsgemäss liegt es an uns Eltern, den für unsere Familie besten Mix der drei Kategorien zu finden. Unterschätzen Sie dabei nie Ihre eigene Medienkompetenz, die vom Bauchgefühl oder vom gesunden Menschenverstand kommt.

Denken Sie auch an die digitale Hygiene

Wir sind als Gesellschaft einer ungeheuerlichen Explosion von Informationen ausgesetzt, vor der wir uns einzig mit einem umsichtigen Umgang mit unserer eigenen Aufmerksamkeit schützen können. Ein Tipp: Führen Sie zum schon bestens eingeübten Händewaschen vor dem Essen auch digitale Hygieneregeln ein. Handys (auch diejenigen von uns Eltern) sollten am besten ausser Reich-, Sicht- und Hörweite sein, wenn wir Zeit mit unseren Liebsten verbringen möchten. Und die digitale Hygiene sollte der Körperhygiene in nichts nachstehen. Dies hilft uns modernen Eltern in unserer Vorbildfunktion als Aufmerksamkeitsmanager.

Gleichzeitig gibt es nichts Verwerfliches, wenn Sie Ihren Hochzeitstag im Lieblingsrestaurants feiern und dabei Ihr Kind bewusst mit Tablet und Kopfhörern «ruhigstellen». Dies sollte jedoch vorgängig erst unter Eltern und dann auch mit dem Kind besprochen und als Ausnahme deklariert werden.

Anders ist es, wenn wir uns selbst beim Aushändigen von Handys und Tablets ertappen, um dem notorischen «aber ich weiss nöd was mache» entgegenzuwirken. Hier will das Kind vielfach nicht nur unsere totale Aufmerksamkeit, sondern auch unsere Rolle als Animatoren. Falls wir weder Zeit noch Lust haben, in eine solche Rollen zu schlüpfen (was ab und zu total okay ist), dann sollten wir im gleichen Zug auch die Akzeptanz der Langeweile mitnehmen. Widerstehen Sie dem Bildschirm und lassen Sie Ihr Kind das Tal der Langeweile alleine durchschreiten – denn es ist das Vorzimmer der Kreativität. Die inneren Bilder ihres Kindes werden wach und die tollsten Ideen, Spiele und Kreationen entstehen.

Die Kunst und individuelle Herausforderung liegt also darin, die für uns wie auch für unsere Kinder ideale Bildschirmzeit zu finden, die uns weiterbringt und inspiriert, jedoch unsere eigene Imagination nicht unterdrückt. Probieren Sie dies doch einfach auch selbst wieder einmal aus.

Falls Sie interessiert sind, an vorderster Front der Medienerziehungsforschung mitzumachen und Kinder zwischen 2 bis 16 haben, können Sie an dieser Studie der Universität Basel mitmachen.

Dieser Artikel ist erstmals im Tages-Anzeiger erschienen am 09.07.2021, 05:30

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