Wie kriege ich meinen Sohn vom Bildschirm weg?

Handyentzug, Internetzugang abschalten: Wie sollen Eltern damit umgehen, wenn das Kind gamesüchtig ist?

Liebes Mamablog-Team, heute morgen bin ich schon wieder mit der Gamekonsole meines Zwölfjährigen in der Tasche ins Büro gegangen. Das kommt in letzter Zeit öfter vor. Ich bin alleinerziehend, und mein Sohn ist jeweils an zwei Tagen die Woche während drei Stunden alleine zu Hause. In dieser Zeit hat er letztlich nur eines im Sinn: Gamen. Allem voran das Ballergame«Fortnite». Wenn ich mit anderen Müttern darüberreden, zucken die meisten nur die Achseln mit Bemerkungen wie «Jungs sind eben so, dass wird sich schon wieder legen». Ich will mich aber weder damit anfreunden, dass mein Sohn so viel Zeit mit Gamen verbringt, noch mit den Inhalten dieser Spiele. Wie kann ich ihm verständlich machen, dass das auch nur zu seinem Guten ist? Pia aus Zürich

Liebe Pia, danke für Ihre Frage. Hier einige Gedanken und Erfahrungen rund ums Gamen, insbesondere auch zum nach wie vor sehr populären «Fortnite»-Spiel. Es sind schon sehr bizarre Zeiten, die wir gerade durchleben. Maskiert und mundtot hocken wir im Morgentram, die Ohren mit zigarettenstummel-ähnlichen Plastikteilen verstopft, regungslos auf ein leuchtendes, elektronisches Rechteck starrend. Draussen fährt das Leben an uns vorbei, wir horchen dem Youtube-Autoplay-Modus und schauen das nächste Video.

Raus aus der trüben Realität

In solchen Zeiten bieten sich Videogames als Alternative an. Nix wie weg von diesem komischen Corona-Leben, rein in die bunte, spannende und immer belohnende Welt der Games. Zu erwarten, dass unsere Kinder dieser jederzeit und überall bereitstehenden Einladung widerstehen und freiwillig in unsere trübe Realität zurückkommen, ist doch schon sehr viel verlangt. Liegt es nicht vielleicht an uns, zusammen mit unseren Kindern in deren Welt zu gehen? Sollten wir nicht zumindest versuchen zu verstehen, wie die Welt unserer Kinder aussieht (mehr dazu hier)?

Nein, ich war nie ein richtiger Gamer und hatte immer eine gesunde Abscheu vor «Ballergames». Bis heute habe ich es nie geschafft, stundenlang in die Computerspielewelt abzutauchen. Ich bin vielmehr fasziniert von der Faszination meiner Kinder und deshalb motiviert, diese Faszination besser zu verstehen. Games sind Orte, soziale Erlebnisse, fantastische Erlebniswelten und perfekt inszenierte Plattformen, die praktisch sämtliche menschlichen Bedürfnisse im Sekundentakt befriedigen.

Verhaltensforscher, Psychologinnen, Persuasive-Design-Entwickler und Marketingprofis sorgen dafür, dass Games wie auch «soziale Plattformen» so schnell wie möglich so süchtig wie möglich machen. Und wir Eltern sind dazu verdammt, einerseits die Kinder spielen zu lassen, andererseits sie vor den clever designten Suchtfallen zu schützen (mehr dazu hier).

Ich schlage vor, diese zugegebenermassen schwierige Herausforderung zweizuteilen und als gegenseitig bereichernder Dialog zu gestalten.

Was machst du da genau?

Von vielen Games habe ich keine Ahnung. Und das ist gut so. Denn es motiviert mich, Kindern und Jugendlichen viele Fragen zu stellen. Was ist deine Mission im Spiel? Wie lange dauert ein Spiel? Wie gewinnst du Punkte? Was gibt es für Belohnungen, und was musst du dafür machen? Wirst du auch bestraft für gewisse Taten? Spielst du alleine oder in einem Team? Was für Waffen brauchst du und warum? Musst du für diese etwas bezahlen? Was fasziniert dich am meisten beim Spiel? Wie fühlst du dich vor/während/nach dem Spiel?

Bei all diesen Fragen geschieht etwas Magisches. Das Kind fühlt sich ernst genommen und freut sich über die ungeteilte Aufmerksamkeit, die es erhält. Quasi als Dank unseres Interesses erklären und erzählen junge Gamer ihr Leben und Leiden in ihrer digitalen Parallelwelt. Und genau da wird es dann wirklich spannend.

Wo braucht es mich?

Jetzt sind wir dran, denn die letzten paar Fragen sind ja nicht mehr sogenannte «Anwenderkompetenzen», sondern es geht vielmehr darum, was das Spiel mit dem Kind macht. Jetzt hat das Kind seine Igelposition verlassen und ist bereit für eine Diskussion über die zerbrochenen Bleistifte und Lineale, die als Game-Agressionsabbau hinhalten mussten. Sobald wir Kinder und Jugendliche in ihrer Gamewelt ernst nehmen, anstatt sie mit unseren Vorurteilen zu bombardieren, entstehen wunderbar bereichernde Gespräche über Werte, Moral, Ethik bis hin zu Philosophie. Warum hast du Mühe, aufzuhören? Wieso willst du dir diese zehnfränkige «Skin» kaufen? Wie viel glaubst du, ist diese wirklich wert? Was ist das Coole am Game? Solche offene Fragen erlauben uns, den Anschluss zu finden und Einfluss zu nehmen.

Ja, tönt alles so gut wie theoretisch, hör ich Sie sagen. Selbstverständlich liegt die Erziehungsautorität nach wie vor bei uns. Handyentzug, Internetzugang abschalten, Ladekabel verstecken usw. geht für mich voll in Ordnung, um übermässigem Gamen oder Chatten ein Ende zu setzen – solange zumindest ein konstruktiver und ehrlicher Dialog stattgefunden hat.

Dieser Artikel ist erstmals am 9. Oktober 2020 im Tages-Anzeiger erschienen

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