Stimmt es, dass die Kinder von Techbossen keine Handys haben? 
Techfreie Erziehung zum Wohle der Kinder: Denn das Smartphone sollte vor der Nutzung verstanden werden. Illustration: Benjamin Hermann

ELTERNFRAGE ZUR MEDIENERZIEHUNG

"Immer wieder höre ich von Geschichten, dass die Bosse der führenden Technologieunternehmen im Silicon Valley ihre Kinder viel strenger erziehen als allgemein üblich. Ihre Kinder schicken sie in Rudolf Steiner Schulen und anstatt Handys gibt es konsequent Waldspielgruppen und Holzspielzeuge. Wie viel stimmt von alldem und falls es zutrifft, wie lässt sich das erklären?" Leserfrage von Boris aus Zürich


Lieber Boris, danke für die Frage. Dieses Thema wird tatsächlich seit Jahren immer wieder in verschiedenen Medien diskutiert, teils ideologisch emotional, teils faktenbasiert und wissenschaftlich. Ich werde mir in diesem Text entsprechend erlauben, die Spannbreite von wissenschaftlichen Erkenntnissen bis hin zu meinen väterlichen und beruflichen Erfahrungen auszuschöpfen.

Vier kulturelle Grundkompetenzen

Die Basis und sogleich der kulturelle Grundpfeiler unseres Bildungssystems ist die Fähigkeit, lesen, schreiben und rechnen zu können. Sobald unsere Kinder die sechsundzwanzig Buchstaben und zehn Zahlen kennen, werden Kombinationen geübt. So entstehen Wörter und zusammengesetzte Zahlen. Die eigentliche Magie dahinter besteht darin, dass gleichzeitig lesen und schreiben gelernt wird. Wir sind also nicht nur «Konsumenten» von Texten und Zahlen, sondern wir werden zugleich zu potenziellen Schriftstellerinnen, Poeten und Mathematikerinnen erzogen. Heute sprechen wir von der «digitalen Kompetenz» als vierte kulturelle Grundkompetenz. In der digitalen Bildungsentwicklung unterlief uns jedoch ein epochaler Fehler. 

Und so passierte es, dass Informatik mit Anwenderkompetenz verwechselt wurde.

In den frühen Achtzigerjahren wurde durch die Erfindung von Microsoft Windows die grafische Benutzeroberfläche dem breiten Publikum zugänglich. Die eigentliche Revolution dieser Windows waren die Pop-up-Fenster, die das Bedienen von Programmierzeilen vereinfachten beziehungsweise Letztere verdeckten. Das User Interface (Schnittstelle zwischen Mensch und Computer) war erfunden und nistete sich in Windeseile zwischen Programmierer und Benutzer ein. Und so passierte es, dass Informatik mit Anwenderkompetenz verwechselt wurde. Wir erlagen der kollektiven Illusion, dass das effiziente Bedienen von vielen Windows etwas mit Informatik zu tun hätte. In der Realität jedoch wurden wir zu Bedienern degradiert und Schicht um Schicht vom Programmiercode entfernt. 

Eine Generation von Anwendern

Dieser digitale Keil, der jahrelang zwischen dem Bedienen des Fensters (lesen) und dem Codieren (schreiben) geschlagen wurde, liess eine ganze Generation zu einer «Read only»-Generation heranwachsen. Durch die schleichende Entfernung vom eigentlichen Programmieren, hin zum Nutzen von Software-Anwendungen, wurden wir zu Anwenderinnen und Anwendern erzogen. Erst seit der Einführung des Lehrplans 21 der Deutschschweizer Kantone konnten unsere Schulen dieser gefährlichen Entwicklung entgegenwirken. 

Die digitale Elite im Silicon Valley ist sich dieser Entwicklung gezwungenermassen sehr bewusst. Und so erstaunt es auch nicht, dass viele Tech-Manager ihre Kinder im Umgang mit digitalen Medien strenger erziehen. Grundsätzlich gibt es dafür zwei Hauptgründe: Einerseits um zu verhindern, dass die Kinder nur zu Anwenderinnen und Anwendern und Softwarenutzenden heranwachsen, andererseits um sie vor dem enormen Suchtpotenzial von Videogames und «sozialen» Plattformen zu schützen. 

Erfolgsrezept: Waldorfer Medienpädagogik

Medienpädagogik ist ein zentraler Baustein der Rudolf Steiner Schulen. Die ersten sieben Jahre sind jedoch auf analoge Medien gerichtet, um den Kindern möglichst umfassende Kompetenzen für die reale Welt zu geben. Darauf aufbauend werden ab dem zwölften Lebensjahr digitale Medienkompetenzen gelernt. Auch hier hat das Verstehen der Technologie mindestens das gleiche Gewicht wie das Anwenden von Programmen. So wird zum Beispiel ein alter Computer in Einzelteile zerlegt, um genau zu verstehen, wie dieser funktioniert. Die Kinder lernen Programmieren, logisches Denken und Probleme in Teilprobleme zu teilen, um Lösungen zu erarbeiten (in der Pädagogik wird dies auch «computational thinking» genannt). Die steigende Beliebtheit von Waldorfschulen (allein in Kalifornien gibt es vierzig Schulen) und die Erfolgsquoten der Schülerinnen und Schüler (94 Prozent der Abgängerinnen und Abgänger schaffen es danach ins College) zeugt vom Erfolg der Waldorfer Medienpädagogik.

Es ist auch kein Geheimnis, dass viele Silicon-Valley-Manager für ihre Kinder eine möglichst techfreie Erziehung anstreben. Sowohl der verstorbene Apple-Gründer Steve Jobs als auch Google-CEO Sundar Pichai und Snapchat-CEO Evan Spiegel hatten Smartphones unter 10 Jahren verboten und die Bildschirmzeit ihrer Kinder streng kontrolliert.

Das Smartphone ist zweifellos eine geniale Erfindung, die uns als omnipräsentes Werkzeug in praktisch jeder Lebenssituation zur Hilfe steht. Es sollte jedoch genau als solches wahrgenommen werden. Ob Hammer, Stichsäge oder Sackmesser, jedes Werkzeug muss vor seiner Nutzung verstanden werden. Das Smartphone sollte hier keine Ausnahme darstellen. Da es für ein Kind unter zehn Jahren praktisch unmöglich ist, die komplexe digitale Technologie hinter dem glatten Bildschirm zu verstehen, macht ein elterlicher Schutz vor diesem «Werkzeug» Sinn. Sobald ein bewusster und gesunder Umgang mit sozialen Medien, Videospielen erlernt ist, wird auch die rein quantitative Bildschirmzeit weniger wichtig.  

Oder wann hat Ihr Kind das letzte Mal eine Gebrauchsanleitung für Software gelesen?

Im Lehrplan 21, der im Kanton Zürich seit 2018 angewendet wird, wird das Thema «Medien und Informatik» als Modul oder auch «transversales Fach» gelehrt. Richtigerweise wird dabei zwischen Medienbildung (kritisches Denken und Medienverständnis), informatischer Bildung (computational thinking und coden) und Anwenderkompetenzen (Nutzung von Programmen) unterschieden. Da die Silicon-Valley-Konzerne alles daransetzen, dass die Anwendung ihrer Erzeugnisse so einfach wie möglich ist (wann hat Ihr Kind das letzte Mal eine Gebrauchsanleitung für Software gelesen?), sollte der Fokus der Medienbildung in der kritischen Selbstreflexion und im informatischen Grundverständnis liegen. Unsere elterliche Unterstützung in der Medienerziehung ist hierbei unerlässlich. Nicht alle Kinder werden programmieren können, aber alle Kinder sollten wissen, was Programmiererinnen und Programmierer können. 

Dieser Artikel wurde erstmals publiziert im Tages-Anzeiger vom 22. April 2022

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