Familie

Zürcher Gymi Schülerinnen und Schüler verlangen elterliche Handyregeln

Gemäss einer Umfrage unter 735 Schülerinnen und Schüler von Zürcher Gymnasien, sind acht von zehn Jugendlichen dankbar für verbindliche Smartphone Regeln.

Die Studie zeigt, dass Alterskohorte der entscheidende Faktor sind, wie mit Bildschirmzeit Regeln umgegangen wird. Bildschirmzeit Regeln scheinen dann am wichtigsten, wenn deren Sinn von Kindern noch nicht verstanden wird.

?Die Resultate bestätigen eine Wahrnehmungslücke, die ich seit Längerem beobachte?, sagt Beat Richert, Medienpädagoge und Autor der Studie. ?Eltern sind vielfach gehemmt, klare und verbindliche Mediennutzungsregeln zu erstellen, weil sie Aggressionen und Frustration ihrer Kinder befürchten?, erwähnt Richert.

Diese Frustration gibt es tatsächlich, scheint jedoch im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren ihren Zenit zu erreichen. Gemäss der Studie ist in diesem Alter auch der Prozentsatz der Kinder, die heimlich den Internet-Zugangscode knacken, am höchsten. Gleich nach diesem Lebensabschnitt setzt jedoch die Erkenntnis von Sinn und Zweck von Bildschirmzeitbeschränkungen ein. So bestätigen 92% der befragten Jugendlichen, dass sie im jetzigen Durchschnittsalter von 16 Jahren die Notwendigkeit von Bildschirmzeit Einschränkungen begreifen und begrüssen. Eine Mehrheit der Befragten (52%) erwähnt denn auch, dass sie selbst versuchen, die Handyzeit zu beschränken, es jedoch nicht schaffen.

?Bildschirmzeit Regeln sind dann am wichtigsten, wenn deren Sinn von den Kindern noch nicht verstanden wird. Es ist für Kinder und Jugendliche schlichtweg unmöglich, der inhaltlichen Reizüberflutung und der suchtfördernden Technologie von Handys widerstehen zu können?, ergänzt Richert. Hass auf die Regelsetzer ist normal. Besonders in der Adoleszenz gehören diese Gefühle zum Prozess des sich selber finden.

Klare und verbindliche Mediennutzungsregeln, verbunden mit einem offenen und regelmässigen Austausch, scheinen unabdingbar. Ein Austausch unter Eltern, zum Beispiel im Rahmen eines interaktiven Elternabends an der Schule, kann eine kontrollierte und bewusste Nutzung von Bildschirmmedien auch fördern.

Die komplette Studie ist hier verfügbar.

Den Beitrag dazu auf 10 vor 10 im Schweizer Fernsehen: https://www.srf.ch/play/tv/-/video/-?urn=urn:srf:video:41c84845-c224-433d-a3c1-175f741d2f1f

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Ausgang gesperrt, Bildschirme entsperrt: Kinder müssen zu Hause bleiben


Studen ist ein 3500 Seelen Dorf im Berner Seeland und wird von diesen acht weissen Männern regiert.

Gemeinderat Studen BE

Diese Gemeinderäte haben soeben beschlossen, dass Kinder unter 14 Jahren zwischen 22h und 6h obligatorisch zu Hause sein müssen. Obwohl die Frage, was ein Kind nach 22 Uhr nachts und ohne elterliche Begleitung draussen macht, durchaus berechtigt scheint, stellt dies ein höchst fragwürdiger Eingriff in die Privatsphäre und die individuelle Freiheit dar.

Spätestens seit dem «bleiben sie zu Hause» Mantra während der COVID19 Pandemie wissen wir, dass der Hausarrest die Bildschirmzeit der Kinder massiv steigen liess. Sowohl Fernsehzeit als auch die Nutzung von Games und «sozialen» Medien sind bei Kindern und Jugendlichen während der Pandemie zwischen 40-67 Prozent gestiegen.

Eine viel sinnvollere und nachhaltige Gesundheitsförderung der Kinder und Jugendlichen von Studen und anderswo wäre eine ähnlich klare Regel für die Welt drinnen, vor dem Bildschirm. Die grenzenlosen Risiken eines unkontrollierten Bildschirmkonsums sind unvergleichbar gefährlicher für die psychische und physische Entwicklung der Kinder. Währenddem wir Kinder zu Hause einschliessen, machen bereits im Kindergarten solche Videos die Runde. Kinder in die eigenen vier Wände einzuschliessen, ohne gleichzeitig mindestens einen ebenbürtigen Schutz für die virtuelle Welt zu gewährleisten, könnte sich als ein fataler Fehlentscheid entpuppen. 

Lieber Gemeinderat, liebe EinwohnerInnen von Studen, gerne bin ich bereit, mit euch sinnvolle Regeln für die andere, digitale, und gefährlichere Welt eurer Kinder zu diskutieren.

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Vom Märchen, dass digitale Medien dick, dumm und einsam machen

In einem viel beachteten WIRED Artikel von 2008 suggerierte der damalige Chefredaktor Chris Anderson, dass im Zeitalter von „Big Data“ Korrelationen genügen und eine nachweisbare Kausalität überflüssig werde.

Wahrhaftig eine unverschämte Behauptung, die sich jedoch in den letzten fünfzehn Jahren schleichend immer mehr bestätigt hat, zumindest wenn es um die öffentliche Wahrnehmung von Phänomenen geht. Wir hüpfen von einer Schlagzeile zur Anderen und nehmen uns nicht die Zeit, Kausalitäten zu suchen, geschweige denn zu verstehen. Der Hahn schreit vor dem Sonnenaufgang. Dies ist eine nachweisbare Korrelation. Die Sonne geht jedoch nicht auf, weil der Hahn schreit – die Kausalität zu einer solchen Interpretation fehlt ganz offensichtlich.

Dieser Podcast von EDUCA mit dem „kalten Blick der Statistik“ auf das heiss diskutierte Thema der Digitalisierung der Bildung räumt mit vielen emotional getriebenen Falschinterpretationen auf und ist idealer Ausgangspunkt einer sachlicher Diskussion:

Kritisches Denken gegenüber der rasanten Digitalisierung sind berechtigt. Bestrebungen zu einer bewussten und gesunder Nutzung von digitalen Medien sind essenziell. Es ist jedoch falsch, schädlich und total überspitzt – insbesondere aus Sicht von älteren Menschen auf die Jugend – zu behaupten, dass digitale Medien dick, dumm und einsam machen. Was wir brauchen ist ein konstruktiver und kritischer Dialog, zwischen jung und alt.

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«Be real» ? echt jetzt?

Psychologische Tricks und fragwürdige AGBs: Was Eltern über die Social-Media-App BeReal wissen müssen.

Leserfrage: Meine Tochter (14) ist ohnehin ziemlich viel auf Social-Media-Kanälen unterwegs, neu ist aber eine App hinzugekommen, die ich nicht wirklich einschätzen kann. Es handelt sich um «BeReal», bei der es ja darum geht, «ungeschönte» Bilder ? es gibt weder Fotofilter noch Nachbearbeitungsmöglichkeiten ? möglichst schnell hochzuladen. Was mich beschäftigt: Wer die Bilder «verspätet», also nicht unmittelbar auf die Aufforderung hin postet, wird mit «late» markiert und damit sozusagen gebrandmarkt. Zudem sollen die Nutzerinnen auf BeReal posten, ohne viel nachzudenken, was ich ebenfalls für fragwürdig halte. Wie seht ihr das? Und was sollten wir als Eltern über BeReal wissen? Liebe Grüsse: Tanja

Liebe Tanja, besten Dank für Ihre Frage. BeReal ist effektiv eine weitere «soziale» Plattform, die seit 2020 um die Aufmerksamkeit von vorwiegend jüngeren Nutzerinnen und Nutzern kämpft. Hinter der Plattform stehen zwei französische Software-Entwickler, die wiederum von denselben Tech-Investoren finanziert werden, die unter anderem auch Geld in Facebook, Twitter und die Spieleplattform Roblox gesteckt haben. Die Geschäftsstruktur lässt demnach erraten, dass die Idee des echten und authentischen Seins mehr eine Marketingpositionierung als eine ernst gemeinte Aufmunterung zu mehr Selbstwertgefühl für Jugendliche ist.

Wie User an die Plattform gebunden werden

Anders als beispielsweise auf Snapchat oder Instagram, wo junge Menschen zum Teil Stunden verbringen, um das perfekte Selfie noch mit unzähligen Filtern zu optimieren, fordert BeReal die Nutzerinnen und Nutzer täglich auf, ein spontanes Foto von sich zu erstellen und zu teilen. Die Zeit der automatisch gesandten Aufforderung variiert, da man aus Belohnungssystemen von Games weiss, dass das Engagement der Nutzer höher ist, wenn man zu verschiedenen Zeiten überrascht wird. Die App sieht dann vor, dass Nutzerinnen innert zwei Minuten Fotos sowohl mit der auf sich gerichteten Kamera als auch mit der Kameraeinstellung in die Gegenrichtung machen. So entsteht ein möglichst realistisches Foto-Tagebuch, das dann mit Freunden geteilt, geliked und kommentiert werden kann.

Das sind psychologische Tricks, um die Nutzerinnen und Nutzer möglichst lange, möglichst oft und meist unbewusst an die Plattformen zu binden.

Um weiter Druck auf die Nutzerinnen und Nutzer auszuüben, sind die Fotos der Freunde nur so lange zu sehen, bis das nächste Foto hochgeladen wird, sprich ein Tag. Eingeführt von Snapchat und nachgeahmt von Instagram, wird diese Technik der Zeitlimitierung auch als «Dark Pattern» verstanden. Es sind dies psychologische Tricks, um die Nutzerinnen und Nutzer möglichst lange, möglichst oft und meist unbewusst an die Plattformen zu binden. Gelöscht werden die unsichtbar gewordenen Fotos jedoch nicht. Dazu aber später.

Wer zu viele Versuche braucht, wird ausgelacht

Wer es nicht schafft, innert zwei Minuten zwei spontane Fotos zu erstellen (die Fotos können ausschliesslich in Echtzeit und mit der von der App aktivierten Kamera geschossen werden) wird von der App sofort und vor allen Freunden mit der Anzahl Stunden, die man zu spät ist ? «late!» ? ermahnt. Auch diejenigen, die mehrere Versuche brauchen, um ein teilbares Foto zu erstellen, werden mit der angezeigten Anzahl der Versuche quasi an den Pranger gestellt. So entsteht ein mehrschichtiger sozialer Druck, einerseits um erst mal den Grundansprüchen der App selbst gerecht zu werden, andererseits jedoch, um so authentisch wie möglich zu sein.

Wer fünfzehn Versuche braucht, um ein «spontanes» Foto zu erstellen, wird dann schon mal ausgelacht, was sich wiederum negativ auf das Selbstwertgefühl der Person auswirken kann. Durch den Zeitdruck entstehen in der Tat spontanere Fotos, bei denen der Hintergrund umso alltäglicher ist. Essgewohnheiten, Autonummern, Zimmereinrichtungen, Klassenzimmerdekoration und vieles mehr geben nicht nur unwahrscheinlich viel private Informationen preis, sondern werden auch gleich auf einer für alle «Freunde» einsehbaren Karte angezeigt, um alles sofort geografisch zu orten.

Und woher kommt das ganze Geld?

Der einzige «Mehrwert» für Nutzerinnen und Nutzer der Plattform besteht darin, die Attraktivität des eigenen täglichen Lebens mit demjenigen von anderen Freunden zu vergleichen. So entsteht auch hier das allmähliche Unbehagen, das das eigene Leben langweiliger ist als das der anderen, was wiederum depressive Gedanken auslösen kann.

Apropos Mehrwert: Die App, die bis jetzt weltweit rund 53 Millionen Mal installiert wurde und dessen Marktwert zurzeit auf etwa 600 Millionen US-Dollar geschätzt wird, verdient offiziell keinen Rappen. Anders als Instagram, Tiktok und Snapchat, gibt es auf BeReal keine Werbung. Woher soll dann das Geld sprudeln? Der Verdacht liegt nahe, dass Hunderte von Fotos der gleichen Person, in gleichen zeitlichen Abständen aber in verschiedensten Situationen, eine wertvolle Datenbank zur Fütterung von selbstlernenden Gesichtserkennungsalgorithmen darstellt.

Es darf vermutet werden, dass die Fotos wertvolles Rohmaterial für Überwachungssysteme darstellen, die auf künstlicher Intelligenz basieren.

Die übliche Exit-Strategie der Investoren, eine magische Marke von z. B. 100 Millionen Benutzerinnen und Benutzern zu erreichen und zu hoffen, von einem grossen Player aufgekauft zu werden, ist immer mehr Geldgebern zu riskant. Es darf also vermutet werden, dass die Fotos von grösstenteils ahnungslosen Jugendlichen wertvolles Rohmaterial für Überwachungssysteme darstellen, die auf künstlicher Intelligenz basieren.

Die allgemeinen Geschäftsbedingungen von BeReal sehen eine dreissigjährige (!) Bewilligung vor, während der die Plattformbetreiber Inhalte von Nutzerinnen und Nutzern auf anderen «sozialen» Plattformen wie WhatsApp oder Instagram teilen dürfen. Natürlich dürfen die nutzergenerierten Inhalte auch gehostet, gespeichert, reproduziert, modifiziert und unterlizenziert werden. Währenddessen darf von den Nutzern nur ein Foto pro Tag gelöscht werden. Weitsichtig, ja fast schon sarkastisch, erwähnt der Plattformbetreiber übrigens explizit, dass er nicht für verlorene Zeit und Gelegenheiten haftbar gemacht werden kann.

Deshalb mein Rat: Be real, geh raus auf die Strasse und triff dich mit Freundinnen und Freunden ? heute mal ohne Handy!

Dieser Artikel wurde erstmals im Tages-Anzeiger vom 10. Februar 2023 publiziert.

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Social Media_Abhängigkeit_Sucht_Chancen_Gefahren_für Kinder

Wie soll ich unsere Tochter beim Social-Media-Einstieg begleiten?

Eine Leserin fragt sich, wie sie ihrem Kind die Gefahren und Möglichkeiten auf Social Media aufzeigen kann. Dieser Beitrag diskutiert über Chancen und Gefahren von „social“ Media Plattformen.

Lieber Herr Richert, ich bin nicht auf Social Media unterwegs ? es hat mich nie interessiert, sondern eher abgeschreckt (Stichwort Aufmerksamkeitskiller, Suchtgefahr, Bilderflut von ungesunden Körpern). Jetzt kommt unsere bald 11-jährige Tochter aber in ein Alter, wo sie damit konfrontiert werden wird; lange werde ich diesen Trend also nicht mehr ignorieren können! Nach dem letzten Papablog-Beitrag von Markus Tschannen, in dem er verschiedene spannende Accounts von Kindern auf Social Media vorstellte, habe ich mich nun gefragt, ob ich meine Haltung überdenken sollte. Ich möchte unserer Tochter nicht nur die Gefahren, sondern auch die Möglichkeiten aufzeigen. Wie kann ich unsere Tochter beim Einstieg in diese neue Welt auf sinnvolle Weise begleiten? Leserinnenfrage von Caroline

Geschätzte Caroline, danke für Ihre Frage, mit der Sie vielen anderen Eltern aus dem Herzen sprechen. In Ihrer Fragestellung liegt gleichzeitig schon viel Antwort. Sie sind sich bewusst, dass Sie den Trend nicht mehr lange ignorieren können. Explizit wegschauen und so tun, als ob es diese Plattformen alle nicht gäbe, wäre eine denkbar schlechte Strategie, denn ihre Tochter wäre dann quasi gezwungen, die digitale Welt bei den Kolleginnen und anhand der vielleicht weniger strengen Richtlinien deren Eltern zu entdecken.

Metamorphose der Pubertät

Ihre Tochter steht vor der grandiosen Metamorphose der Pubertät. Sie wird sich mehr und mehr ablösen und abgrenzen wollen und ihre eigene Mädchen-Clique haben. Ihr kindlicher Körper wird sich in einen Frauenkörper verwandeln und sie wird verschiedene Looks und Modestile ausprobieren wollen. Digitale Plattformen wie Snapchat, Instagram oder TikTok sind hierzu verführerische Werkzeuge, die innert Sekunden kostenlos aufs Handy installiert werden und mit denen grenzenlos experimentiert werden kann.

So gesehen sind die «sozialen» Medien eine clevere Weiterentwicklung vom Spiegel am Kleiderschrank, dem noch vor zwanzig Jahren die Funktion eines Feedback-Gebers zukam. Der wichtigste Unterschied zwischen diesen beiden Welten liegt im schützenden Hier und Jetzt des Kleiderschrankspiegels. Es handelt sich um das gleiche Phänomen der Identitätssuche. Einerseits ist ihre Tochter in ihrer Welt und kann geschützt von fremden Blicken ungeniert Sachen ausprobieren. In der digitalen Welt jedoch wird sie angetrieben von Herzchen und Daumen-Hochs und verfällt dem unbewussten Rausch nach sozialer Anerkennung, ohne jeglichen räumlichen und zeitlichen Schutz.

Fokus auf die Bedürfnisse

Es ist wichtig, dass wir Kinder in ihrer Welt ernst nehmen und wir ihre Sichtweise zu verstehen versuchen. Fokussieren Sie bei Ihren Diskussionen auf die Bedürfnisse Ihrer Tochter und erzählen Sie ihr, wie Sie vielleicht viele dieser Bedürfnisse genau gleich erlebt haben. Erklären Sie, dass jedes hochgeladene Bild auf eine «soziale» Plattform nicht mehr löschbar ist (es entstehen mehrere Kopien und obwohl das Bild vielleicht auf dem Handy der Tochter gelöscht wurde, ist es noch an verschiedenen anderen Orten gespeichert) ? und auch, dass ein unvorteilhaftes Bild schnell zu einer Cybermobbingvorlage werden kann.

Klären Sie Ihre Tochter auf, dass das Internet nicht vergisst und die durch unsere Likes genährten Algorithmen uns innert Tagen durchschauen und manipulieren können. «Soziale» Plattformen werden von neunzig Prozent der Schweizer Jugendlichen als Unterhaltung und passiver Zeitvertreib genutzt. Leider erhalten die Kinder dadurch nicht nur ein verzerrtes Bild der Realität (jedes Instagramaccount ist die Propagandaversion der betreibenden Person), sondern schwächen dabei ihre eigene Kreativität, die von immer mehr Arbeitgebern als die Kernkompetenz der Zukunft gepriesen wird.

Geschwächtes Selbstwertgefühl, depressive Gedanken, Konzentrationsschwäche, Fehlernährung oder mangelndes Empathievermögen sind allesamt Symptome, die mit einer unkontrollierten Nutzung von «sozialen» Medien in Verbindung gebracht werden.

Liebe statt Autorität

Erläutern Sie Ihrer Tochter, dass Sie nicht nur die volle Verantwortung tragen (TikTok, Snapchat und Instagram sind ab 13 Jahren freigegeben, WhatsApp und Youtube offiziell ab 16 Jahren), sondern dass Sie sie vor allem lieben und schützen wollen. Sobald Ihre Tochter versteht, dass es sich nicht um eine Ausnützung von elterlicher Autorität, sondern viel mehr um vorausschauende elterliche Liebe handelt, wird sie Verständnis zeigen.

Alternativen statt lange Diskussionen

Da das Geschäftsmodell der Betreiber von «sozialen» Medien auf Suchtförderung und Aufmerksamkeitsentführung beruht, gibt es in den USA die neue Bewegung «Wait until 8th». Zehntausende von Eltern ermutigen sich dabei gegenseitig, ihren Kindern nicht vor der achten Klasse (13-14 Jahre in den USA) ein eigenes Handy zu geben. So veranstalte auch ich regelmässig Elternabende in Primar- und Sekundarschulen, um die Eltern zu unterstützen, untereinander eine Mediennutzungsvereinbarung zu erarbeiten. Dies ist die effektivste Form gegen das «AADDA Syndrom»: Alle Andern Dürfen Das Aber.

Bei all den guten Gründen, die Nutzung von «sozialen» Medien zu verzögern, helfen vielfach lustige und unterhaltsame Alternativen am besten. Es fühlt sich so wunderbar verjüngend an, wenn wir unsere eigenen Handys verstecken und mit den Kindern zum Beispiel wieder Mal Versteckis spielen.

Dieser Text wurde erstmals im Tages-Anzeiger vom 2. Dezember 2022 veröffentlicht.

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VR Brille für Kinder braucht die Begleitung von Erwachsenen

Sollen Kinder mit Virtual-Reality-Brillen spielen?

Ein Leser fragt sich, ob er seinem Sohn den Kauf einer Virtual-Reality-Brille verbieten soll. In diesem Beitrage diskutiere ich über die Chancen und Gefahren der Technologie.

Leserfrage: Mein Sohn (9 Jahre) durfte kürzlich bei einem Freund zu Hause eine Virtual-Reality-Brille austesten und ist seither regelrecht davon besessen, für eine eigene Brille zu sparen. Mir ist schon klar, dass ein solches Ding unglaublich beeindruckend ist, da man ja in eine fiktive Welt eintauchen kann und dabei Sinneseindrücke wie Geräusche und Berührungen erleben kann. Mir ist allerdings nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass sich ein Neunjähriger hinter einer Brille verschanzt. Was muss ich dazu wissen? Leserfrage von Stefan

Lieber Stefan, danke für die gute Frage. Das enorme Potenzial von Virtual-Reality-Brillen und der audiovisuellen Technologie zwingt uns Eltern, uns näher damit auseinanderzusetzen.

Beim Aufsetzen einer Virtual-Reality-Brille wird den Brillentragenden mittels Bild, Ton und haptischen Impulsen das Gefühl vermittelt, physisch in einer komplett anderen, virtuellen Welt zu sein. Verglichen mit anderen Medien wie Fernsehen, Radio oder klassischen Videogames sind hier verschiedene Dinge grundlegend anders und verdienen eine nähere Betrachtung. 

Grundsätzlich können Virtual-Reality-Brillen uns komplett in eine neue Welt entführen oder aber eine Mischung von der Wirklichkeit mit virtueller Veränderung simulieren (dann spricht man von «augmented reality» oder «mixed reality»).

Die Realität wird ausgeklinkt

Unter unseren klassischen fünf Sinnen Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten nimmt der Sehsinn eine zentrale Rolle ein. Gemäss Studien basieren bis zu 80 Prozent der von unserem Hirn generierten Realität auf dem Sehsinn, der mit Informationen der anderen vier Sinne komplettiert wird. Durch das Aufsetzen von VR-Brillen werden die Augen als unser mit Abstand wichtigstes Realitätsüberprüfungswerkzeug entführt. Die Grenze zwischen innerer, virtueller und äusserer Realität wird verschwommen. Anita Horn, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin, die den Einfluss digitaler Technologien auf die mentale und soziale Entwicklung aus sozialphilosophischer Sicht untersucht, erwähnt: «Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Realitätsbereichen gehören zu den wichtigsten Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen im Kontext einer digitalen Lebens- und Lernwelt. Auch im virtuellen Raum können wir Empathie entwickeln, dabei fehlt jedoch oftmals das zwischenleibliche Korrektiv».

In einer virtuellen Welt entkoppeln wir uns also fast gänzlich von unserem Körper und finden uns je nach Videospiel im Körper eines Muskelhelden oder Sexsklaven wieder.

Die eigene Wahrnehmung ist tendenziell projektiver gefärbt. Damit ein Kind die Wahrnehmungen aus den verschiedenen Realitätsebenen effektiv einordnen kann, braucht es den zwischenleiblichen Austausch und die Reflexion. Kleinkinder erwerben ihre Symbolisierungsfähigkeit und damit das Vermögen, zwischen innerer und äusserer Realität zu unterscheiden, im zwischenleiblichen Austausch mit Bezugspersonen. Also erprobt an einem konkreten Symbolbeispiel. Die Plastizität des kindlichen Gehirns mit seiner hohen Lern- und Anpassungsfähigkeit macht es jedoch auch vulnerabler und manipulierbarer in einer virtuellen Welt. Studien zeigen, dass die virtuelle Realität in der Regel primär als Teil der inneren Realität internalisiert wird.

Körperlos

Immer mehr VR-Games nutzen auch «Motion captures». Dies sind kleine Sensoren, die wie eine Armbanduhr an Händen und Füssen befestigt werden. Anhand der so übermittelten Echtzeit-Positionierungsdaten kann im Videospiel der Körper des Spielenden virtuell abgebildet werden. Durch die VR-Brillen sieht die Spielerin so ihre echten Körperbewegungen, dargestellt in einem fremden Körper, beispielsweise als Drache, Monster oder auch Supermodel.

Wie schnell unser Auge einen virtuellen Körper als den eigenen akzeptiert, zeigt die Gummihand Illusion. In diesem Experiment sitzen Probanden an einem Tisch und legen beide Hände auf den Tisch. Die eine Hand wird dabei verdeckt und durch eine danebenliegende Plastikhand ersetzt. Beim gleichzeitigen Berühren der versteckten Hand und der Plastikhand akzeptiert unser Auge die Plastikhand sofort als die eigene und überträgt die Gefühle auf die virtuelle Hand (übrigens ein tolles Experiment, das Sie mit Ihren Kindern ausprobieren können). In einer virtuellen Welt entkoppeln wir uns also fast gänzlich von unserem Körper und finden uns je nach Videospiel im Körper eines Muskelhelden, Massenmörders oder Sexsklaven wieder.

Totale Aufmerksamkeit

Traditionelle Medien wie Fernsehen oder Youtube auf dem Handy können auch als «Rücklehn-Medien» bezeichnet werden, da wir es uns bequem machen und uns mit Unterhaltung berieseln lassen. Videospiele jedoch sind per Definition interaktiv und verlangen eine ständige Mitwirkung. Genau wie eine Ablenkung durch eine Fliege im Auto kann eine Ablenkung in einem Videogame schnell «tödlich» enden. Die Reizüberflutung, verbunden mit der fehlenden Realitätsüberprüfung, kann zu enormen Stresssituationen führen, in der Kinder schlichtweg überfordert sind.

Übelkeit, Stress und Verwirrung sind bekannte Begleiterscheinungen, die mit der virtuellen Reizüberflutung zunehmen.

Das Phänomen «information overflow» ist in der Aviatik schon seit Jahrzehnten bekannt. Kriegspiloten tragen sogenannte Head-mounted-displays, in denen Duzende von zusätzlichen Informationen direkt ins Helmvisier projektiert werden. Die Menge und die kontextuelle Relevanz der Information steht der limitierten Stressresilienz und der Verarbeitungskapazität der Pilotin gegenüber. Übelkeit, Stress und Verwirrung sind bekannte Begleiterscheinungen, die mit der virtuellen Reizüberflutung zunehmen. Demgegenüber hat die VR-Technologie allerdings unglaubliche Chancen im Bereich von Bildung. Stellen Sie sich vor, anstatt ein langweiliges Geschichtsbuch zu lesen, einfach mal in einen römischen Tempel abzutauchen und diesen mit den Klassenkameraden mittels edukativer Schnitzeljagd zu erforschen!

Begleitung beim Ein- und Ausstieg in eine andere Sinneswelt

Jede VR-Erfahrung ist eine Pause der Wirklichkeit, während der wir in eine andere Sinneswelt eintauchen. Gemäss Anita Horn ist es demnach besonders wichtig, dass Kinder bei den Ein- und Ausstiegsphasen von Eltern begleitet werden. Im Vergleich zu einem Kinobesuch, der uns ebenfalls in eine andere Welt transportiert, fehlen beim Auf- und Absetzen der VR-Brillen oftmals Übergangs- und Verarbeitungsrituale. Durch das Anstehen an der Kasse, den Billettkauf, die Zwischenverpflegung in der Pause und das Gespräch über den Film im Anschluss an den Besuch wird das Erlebnis zu einem klar abgegrenzten Geschehen.

Das Besondere, der Lerneffekt und das Faszinosum, das beispielsweise beim selektiven Einsatz der VR-Brille im Kontext des Unterrichtes erfahrbar wird, weichen mit zunehmender Gewöhnung. Wird die VR-Brille als Bewältigungsstrategie gebraucht, um der konflikthaften Auseinandersetzung mit der äusseren Realität zu entkommen, kann ihr Einfluss ? wie beispielsweise auch beim exzessiven Gamen zu beobachten ist ? zu einem Störfaktor für die Mentalisierungsfähigkeit sowie für die authentische Selbstwahrnehmung werden. Beide Fähigkeiten sind aber grundlegend für die psychische Gesundheit und soziale Beziehungen.

Ich erinnere mich, als ich vor ein paar Jahren in einem VR-Game mitgespielt habe und beim Autofahren nach Hause plötzlich nicht mehr sicher war, ob dies jetzt echt oder virtuell war. Besprechen Sie die Erwartungen vor dem Einstieg und die Eindrücke nach dem Ausstieg mit ihren Kindern ? auf diese Weise verankern Sie VR in der Wirklichkeit. 

Inhalte unbedingt überprüfen

Da die Spielenden gezwungenermassen durch die VR-Brillen von der Umwelt abgeschottet sind, erschwert dies auch eine Inhaltsüberprüfung. In VR-Spielzentren wird dazu die Sicht des Spielenden gleichzeitig auf einem Fernseher übertragen. Aus den besprochenen Gründen haben zum Beispiel Shooter Games im VR-Modus eine noch viel tiefere Wirkung, für dessen Verarbeitung und Rückkehr zur Normalität eine entsprechende «Ich-Stärke» vorhanden sein muss. Wie praktisch bei allen unterhaltungstechnologischen Innovationen, ist die Pornoindustrie auch bei VR-Inhalten führend. Letztere erwartet eine 26-fache, weltweite Umsatzsteigerung von pornografischen VR-Applikationen in den nächsten fünf Jahren. Während die Altersfreigaben bei herkömmlichen Videospielen nach wie vor Empfehlungen sind (die ich einzuhalten empfehle), sind wir Eltern bei VR-Games regelrecht aufgefordert, unsere Erziehungsverantwortung wahrzunehmen. 

Zentral sind dabei die Begleitung und die Aufklärungsarbeit. Ich ermutige Sie deshalb alle zu einer eigenen VR-Erfahrung oder zu einem VR-Spiel gemeinsam mit Ihren Kindern. Besprechen und vergleichen Sie danach Ihre Eindrücke. Denn wie bei allen neuen Medien gilt es, dessen Potenzial zu verstehen und auch die positiven Seiten kreativ zu nutzen. Wie sagte einst schon Paracelsus: «Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.»

Was haltet Ihr von Virtual-Reality-Brillen, liebe Leserschaft? Habt Ihr auch schon Erfahrungen gesammelt? Wir sind gespannt auf Eure Kommentare.

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Techfreie Erziehung zum Wohle der Kinder: Denn das Smartphone sollte vor der Nutzung verstanden werden. Illustration: Benjamin Hermann

Stimmt es, dass die Kinder von Techbossen keine Handys haben? 

ELTERNFRAGE ZUR MEDIENERZIEHUNG

„Immer wieder höre ich von Geschichten, dass die Bosse der führenden Technologieunternehmen im Silicon Valley ihre Kinder viel strenger erziehen als allgemein üblich. Ihre Kinder schicken sie in Rudolf Steiner Schulen und anstatt Handys gibt es konsequent Waldspielgruppen und Holzspielzeuge. Wie viel stimmt von alldem und falls es zutrifft, wie lässt sich das erklären?“ Leserfrage von Boris aus Zürich


Lieber Boris, danke für die Frage. Dieses Thema wird tatsächlich seit Jahren immer wieder in verschiedenen Medien diskutiert, teils ideologisch emotional, teils faktenbasiert und wissenschaftlich. Ich werde mir in diesem Text entsprechend erlauben, die Spannbreite von wissenschaftlichen Erkenntnissen bis hin zu meinen väterlichen und beruflichen Erfahrungen auszuschöpfen.

Vier kulturelle Grundkompetenzen

Die Basis und sogleich der kulturelle Grundpfeiler unseres Bildungssystems ist die Fähigkeit, lesen, schreiben und rechnen zu können. Sobald unsere Kinder die sechsundzwanzig Buchstaben und zehn Zahlen kennen, werden Kombinationen geübt. So entstehen Wörter und zusammengesetzte Zahlen. Die eigentliche Magie dahinter besteht darin, dass gleichzeitig lesen und schreiben gelernt wird. Wir sind also nicht nur «Konsumenten» von Texten und Zahlen, sondern wir werden zugleich zu potenziellen Schriftstellerinnen, Poeten und Mathematikerinnen erzogen. Heute sprechen wir von der «digitalen Kompetenz» als vierte kulturelle Grundkompetenz. In der digitalen Bildungsentwicklung unterlief uns jedoch ein epochaler Fehler. 

Und so passierte es, dass Informatik mit Anwenderkompetenz verwechselt wurde.

In den frühen Achtzigerjahren wurde durch die Erfindung von Microsoft Windows die grafische Benutzeroberfläche dem breiten Publikum zugänglich. Die eigentliche Revolution dieser Windows waren die Pop-up-Fenster, die das Bedienen von Programmierzeilen vereinfachten beziehungsweise Letztere verdeckten. Das User Interface (Schnittstelle zwischen Mensch und Computer) war erfunden und nistete sich in Windeseile zwischen Programmierer und Benutzer ein. Und so passierte es, dass Informatik mit Anwenderkompetenz verwechselt wurde. Wir erlagen der kollektiven Illusion, dass das effiziente Bedienen von vielen Windows etwas mit Informatik zu tun hätte. In der Realität jedoch wurden wir zu Bedienern degradiert und Schicht um Schicht vom Programmiercode entfernt. 

Eine Generation von Anwendern

Dieser digitale Keil, der jahrelang zwischen dem Bedienen des Fensters (lesen) und dem Codieren (schreiben) geschlagen wurde, liess eine ganze Generation zu einer «Read only»-Generation heranwachsen. Durch die schleichende Entfernung vom eigentlichen Programmieren, hin zum Nutzen von Software-Anwendungen, wurden wir zu Anwenderinnen und Anwendern erzogen. Erst seit der Einführung des Lehrplans 21 der Deutschschweizer Kantone konnten unsere Schulen dieser gefährlichen Entwicklung entgegenwirken. 

Die digitale Elite im Silicon Valley ist sich dieser Entwicklung gezwungenermassen sehr bewusst. Und so erstaunt es auch nicht, dass viele Tech-Manager ihre Kinder im Umgang mit digitalen Medien strenger erziehen. Grundsätzlich gibt es dafür zwei Hauptgründe: Einerseits um zu verhindern, dass die Kinder nur zu Anwenderinnen und Anwendern und Softwarenutzenden heranwachsen, andererseits um sie vor dem enormen Suchtpotenzial von Videogames und «sozialen» Plattformen zu schützen. 

Erfolgsrezept: Waldorfer Medienpädagogik

Medienpädagogik ist ein zentraler Baustein der Rudolf Steiner Schulen. Die ersten sieben Jahre sind jedoch auf analoge Medien gerichtet, um den Kindern möglichst umfassende Kompetenzen für die reale Welt zu geben. Darauf aufbauend werden ab dem zwölften Lebensjahr digitale Medienkompetenzen gelernt. Auch hier hat das Verstehen der Technologie mindestens das gleiche Gewicht wie das Anwenden von Programmen. So wird zum Beispiel ein alter Computer in Einzelteile zerlegt, um genau zu verstehen, wie dieser funktioniert. Die Kinder lernen Programmieren, logisches Denken und Probleme in Teilprobleme zu teilen, um Lösungen zu erarbeiten (in der Pädagogik wird dies auch «computational thinking» genannt). Die steigende Beliebtheit von Waldorfschulen (allein in Kalifornien gibt es vierzig Schulen) und die Erfolgsquoten der Schülerinnen und Schüler (94 Prozent der Abgängerinnen und Abgänger schaffen es danach ins College) zeugt vom Erfolg der Waldorfer Medienpädagogik.

Es ist auch kein Geheimnis, dass viele Silicon-Valley-Manager für ihre Kinder eine möglichst techfreie Erziehung anstreben. Sowohl der verstorbene Apple-Gründer Steve Jobs als auch Google-CEO Sundar Pichai und Snapchat-CEO Evan Spiegel hatten Smartphones unter 10 Jahren verboten und die Bildschirmzeit ihrer Kinder streng kontrolliert.

Das Smartphone ist zweifellos eine geniale Erfindung, die uns als omnipräsentes Werkzeug in praktisch jeder Lebenssituation zur Hilfe steht. Es sollte jedoch genau als solches wahrgenommen werden. Ob Hammer, Stichsäge oder Sackmesser, jedes Werkzeug muss vor seiner Nutzung verstanden werden. Das Smartphone sollte hier keine Ausnahme darstellen. Da es für ein Kind unter zehn Jahren praktisch unmöglich ist, die komplexe digitale Technologie hinter dem glatten Bildschirm zu verstehen, macht ein elterlicher Schutz vor diesem «Werkzeug» Sinn. Sobald ein bewusster und gesunder Umgang mit sozialen Medien, Videospielen erlernt ist, wird auch die rein quantitative Bildschirmzeit weniger wichtig.  

Oder wann hat Ihr Kind das letzte Mal eine Gebrauchsanleitung für Software gelesen?

Im Lehrplan 21, der im Kanton Zürich seit 2018 angewendet wird, wird das Thema «Medien und Informatik» als Modul oder auch «transversales Fach» gelehrt. Richtigerweise wird dabei zwischen Medienbildung (kritisches Denken und Medienverständnis), informatischer Bildung (computational thinking und coden) und Anwenderkompetenzen (Nutzung von Programmen) unterschieden. Da die Silicon-Valley-Konzerne alles daransetzen, dass die Anwendung ihrer Erzeugnisse so einfach wie möglich ist (wann hat Ihr Kind das letzte Mal eine Gebrauchsanleitung für Software gelesen?), sollte der Fokus der Medienbildung in der kritischen Selbstreflexion und im informatischen Grundverständnis liegen. Unsere elterliche Unterstützung in der Medienerziehung ist hierbei unerlässlich. Nicht alle Kinder werden programmieren können, aber alle Kinder sollten wissen, was Programmiererinnen und Programmierer können. 

Dieser Artikel wurde erstmals publiziert im Tages-Anzeiger vom 22. April 2022

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Nur brave Kinder dürfen gamen ?

Wir haben mit unseren Kindern (8 und 10) folgenden Deal: Wenn sie sich nicht an Abmachungen halten ? nicht reinkommen, wenn wir sie rufen, ihre Teller nicht abräumen etc. ? bestrafen wir sie mit Geräteentzug. Nun hat mir kürzlich eine Freundin gesagt, dass eine solche Art der Bestrafung kompletter Unsinn sei, weil sie zum einen nichts mit dem Regelverstoss zu tun hat und zum anderen die Geräte für unsere zwei Buben nur noch interessanter werden. Stimmt das wirklich? Wie seht ihr das? Leserfrage von Simone auf Effretikon.

Liebe Simone, danke für Ihre Frage. Belohnungs- und Bestrafungssysteme sind so alt wie die Menschheit selbst. Beim genaueren Hinschauen gleicht unser Leben einem einzigen Hindernislauf zwischen Belohnung und Bestrafung. Ein Säugling muss kurz aufschreien, damit er mit Milch belohnt wird. Kleinkinder werden mit Lächeln und aufmunternden Worten belohnt, sobald Sie auf das Bild der Katze zeigen und «miau» sagen können.

Unsere ganze Gesetzgebung ist ein einziges Belohnungs- und Bestrafungswerk.

Wenn unsere Kinder dann später mit dem Velo auf dem Trottoir fahren, erhalten sie als Bestrafung die erste Busse. Unsere ganze Gesetzgebung ist ein einziges Belohnungs- und Bestrafungswerk. Halten wir uns an die Regeln, werden wir mit Freiheit belohnt, verstossen wir gegen das Gesetz, werden wir bestraft. Und wer sich das ganze Leben lang an die Regeln gehalten hat, den erwartet im Jenseits das Paradies als ultimative Belohnung.

Kausale Beziehung zwischen Regelverstoss und Strafe

Belohnungen und Bestrafungen haben immer zum Ziel, einen Einfluss auf unser Verhalten zu haben. Aus erzieherischer Sicht macht es Sinn, wenn immer möglich eine kausale Beziehung zwischen Regelverstoss und Strafe zu haben. Am besten ist es, die Regeln mit den Kindern gemeinsam zu erstellen und dabei auch den Sinn der Regel zu erklären. Unbegründete Regeln sind viel schwieriger zu verstehen und zu befolgen. Wenn also die Strafe für eine nicht eingehaltene Regel in direktem Zusammenhang mit dem Verstoss steht, unterstützt die Regel das Kind beim Verstehen und beim Erbringen des erwarteten Verhaltens.

So muss vielleicht die- oder derjenige, der das Geschirr nach dem Essen nicht abräumt, beim nächsten Essen das Geschirr der ganzen Familie wegräumen, oder muss den Abfallsack runtertragen. Das Ziel der Regel ist Hygiene und Ordnung im Haushalt und die Strafe unterstützt das Ziel direkt.

Einfache und möglichst wenig Regeln

Grundsätzlich empfehle ich, einfache und möglichst wenig Regeln aufzustellen, ganz nach dem Motto: so wenig wie möglich, so viel wie nötig. Je mehr Regeln wir aufstellen, desto schwieriger und aufwendiger wird auch die Kontrolle der Regelumsetzung. Um uns die Bestrafung einfach zu gestalten, orientieren wir uns vielfach an der Frage «wo tut es am meisten weh?» anstatt «wie lernt das Kind am effizientesten, sich den sozialen Normen einzufügen?».

Dass ein Verbot die Faszination und Attraktivität eines Objektes steigert, wissen wir aus vielen psychologischen Studien.

Wenn wir also eine Pauschalstrafe in Form von Handyentzug oder Gamekonsolen-Entzug für alle Regelverstösse einführen, vereinfacht dies unser «Regel-Management», ist jedoch pädagogisch nicht empfehlenswert. Dass ein Verbot die Faszination und Attraktivität eines Objektes steigert, wissen wir aus vielen psychologischen Studien. So kann eine Pauschalbestrafung mit Handyentzug das Suchtpotenzial des Handys zusätzlich steigern, da es durch das nicht kausal zusammenhängende Verbot zusätzlich zum Objekt der Begierde wird.

Suchtpotenzial von Geräten nicht unterschätzen

Wenn wir also die Bildschirme oder Gamekonsolen einziehen, sollte dies idealerweise immer in Bezug zu unserer Medienerziehung stehen. Diesbezüglich ist Geräteentzug nicht nur unser Recht, sondern auch unsere Pflicht als Erziehungsberechtigte. Computerspiele, «soziale Medien» und das Handy allgemein haben ein enormes Suchtpotenzial. Neuropsychologische Untersuchungen bestätigen, dass Reize und Impulse aus Videogames den Reizen aus dem realen Leben quasi in nichts nachstehen. Das Lustzentrum (Nuccleus accumbens) des Hirns schüttet bei solchen Reizen Dopamin als Glückshormone aus. Dieses Glücksgefühl wird danach vom Stirnhirn kontrolliert und reguliert.

Da das Stirnhirn erst im erwachsenen Alter ausgewachsen und voll funktionsfähig ist, lassen sich Kinder viel mehr von Glücksgefühlen leiten. Dies wird von den Anbietern «sozialer» Plattformen und Videospielen ausgenützt. Die meisten Produkte werden gratis angeboten, um die Nutzerinnen und Nutzer danach so schnell wie möglich abhängig zu machen.

Spielerisch bleiben

Unterstützen Sie Ihre Kinder beim Suchen von Alternativen zu Bildschirmzeit. Versuchen Sie auch, diese Alternativen besonders attraktiv zu machen. Dies kann durch einfache und spielerische Tricks gelingen; versprechen Sie zum Beispiel, beim Kartenspiel oder Verkleidungsspiel mitzuspielen. Spielerische Elemente in Regeln einzubringen, ist eine hervorragende Taktik, um es einfacher und attraktiver zu machen. Ein geniales Beispiel dieser sogenannten Gamification war das Wort «Triffsch?» auf öffentlichen Abfalleimern in mehreren Zürcher Gemeinden. Mit einem einzigen Wort (das langweilige Anti-Littering-Regeln ersetzte) wurde aus einer erwarteten Haltung ein Spiel.

Vergessen Sie dabei jedoch nie, dass Kinder vor allem spielen wollen und spielen sollen.

Nutzen Sie die Bildschirmzeitdaten der ganzen Familie und schreiben Sie diese auf ein Scoreboard auf dem Kühlschrank. Belohnen Sie die bestgenutzte Bildschirmzeit (dank dem Youtubeclip zum besseren Verständnis, wie man irreguläre französische Verben konjugiert, gab es einen glatten Sechser). Genau wie auch unser Lohn immer mehr von Performance-Indikatoren abhängt, können Sie die Bildschirmzeit-Regel auch direkt vom Spiel abhängig machen (nutzen sie z. B. den FIFA Trainer Modus im Fifa-Spiel, um die darin vorgeschlagene Verbesserung der Passquote anzuwenden).

Vergessen Sie dabei jedoch nie, dass Kinder vor allem spielen wollen und spielen sollen. Nutzen Sie diese kreative Form von Regeln und Belohnungen, um spielerisch in Kontakt zu bleiben. Da es mit zunehmender Zeit schwieriger wird, Regeln einzuhalten, ist es auch empfehlenswert, die Kinder beim Einhalten zu loben. Selbstverständlich sind Regeln immer auch den familiären, individuellen und kulturellen Gegebenheiten anzupassen.

Dieser Artikel ist erstmals im Tages-Anzeiger vom 3. September 2021 erschienen

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Ein Tablet zu Weihnachten?

Wo ich hinschaue, im Tram, im Bus, im Restaurant ? überall begegnen mir Kinder, die am Tablet kleben. Die meisten von ihnen können knapp sprechen. Mich stimmt das traurig, denn ich halte nicht viel davon, ein Kind mit einem Gerät ruhig zu stellen. Nun findet aber mein Mann, dass ich ganz schön veraltete Ansichten vertrete, und möchte unserem Fünfjährigen ein Tablet zu Weihnachten schenken. Durch die frühe Mediennutzung würde unser Sohn kognitive und motorische Fähigkeiten erlernen, die ihm in Zukunft nützlich sein würden, so seine Ansicht. Wie seht ihr das? Leserfrage von Denise (39) aus Zug.

Liebe Denise, machen Sie ? Ihrem fünfjährigen Sohn zuliebe ? alles, um das Tablet-Geschenk so lange wie möglich hinauszuzögern.

Stellen wir uns vor, ich hätte vor dreissig Jahren während der Stosszeit auf dem Paradeplatz auf einem Podest gestanden und den Leuten prophezeit, dass drei Jahrzehnte später, alle Jugendlichen der Schweiz mit einem Fernseher im Hosensack rumlaufen würden, mit dem Sie sämtliche Kanäle der Welt schauen und gleichzeitig ihre Hausaufgaben machen könnten. Und mit dem sie miteinander spielen könnten. Und mit dem die Eltern sie jederzeit orten könnten. Und der auch gleich das Trambillett, den Taschenrechner, die Musiksammlung, das Lexikon und die Fotokamera ersetzt.

Begeisterung für digitale Medien versus Kleinkinderziehung

Meine Chancen auf eine direkte Einweisung in die psychiatrische Klinik wären gross gewesen. Sie haben es bemerkt, die beschriebene Utopie ist zu hundert Prozent unsere Realität. Die schier unendliche Faszination, die wir für leuchtende, flache Vierecke mit ständig ändernden Pixeln entwickelt haben, ist also durchaus berechtigt. Meine Begeisterung für die digitale Technologie hat jedenfalls in all den Jahren an nichts eingebüsst.

Vor 21 Jahren war ich zusammen mit meiner damals schwangeren Lebensgefährtin in einer Ultraschalluntersuchung und habe mit meinem klobigen, aber damals modernsten Handy Tonaufnahmen des schnellen Herzschlags unseres ersten Sohnes gemacht. Noch am gleichen Abend stellte ich die Aufnahme auf eine eigens dazu eingerichtete Webpage, um damit die Tanten, Onkel und zukünftigen Grosseltern in der Schweiz, in Deutschland und in Chile zu beglücken (ich wohnte damals in Kanada).

Wenn Sie mir heute sagen würden, ich hätte eine fahrlässige virtuelle Frühgeburt mit eklatantem Eingriff in die Privatsphäre meines Fötus-Sohnes begangen, dann wäre ich mit Ihnen grösstenteils einverstanden.
Unsere unermessliche Begeisterung für digitale Medien den Bedürfnissen der Kleinkinderziehung und dem körperlichen Entwicklungsprozess gleichzusetzen, ist ein fataler Trugschluss.

Alle Sinne zu trainieren, macht Sinn

Menschliche Intelligenz beruht grösstenteils darin, mit welcher (kognitiven) Kapazität wir «Sinn» aus jeder erdenklichen Situation machen können. Um dies zu erreichen, sind wir wiederum auf unsere fünf klassischen Sinne Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen angewiesen (für die Interessierten: Rudolf Steiner hat in seiner Lehre von 12 Sinnen gesprochen). Wenn also ein einjähriges Kind im Hochstuhl Essen auf den Boden schmeisst, erlernt es nicht nur die verschiedenen Texturen, Temperaturen und Gerüche von Esswaren, sondern hat gerade dazu noch die Gravitationskraft entdeckt. Dazu gibt es keine App.

Hören

Wenn wiederum jugendliche Ohren vorwiegend mit Airpods zugestopft sind, dann gewöhnt sich das Gehör an hoch komprimierte, künstlich zusammengestauchte MP3-Frequenzen und verlernt allmählich (oder, schlimmer noch, erlernt gar nie) das Hören des menschenmöglichen Hörspektrums.

Sehen

Wenn von Geburt an neugierige Augen dazu trainiert und erzogen werden, stundenlang auf kleine, leuchtende Vierecke zu starren, dann zieht dies unweigerlich eine Verkümmerung des Sehvermögens nach sich. Dies ist übrigens der Grund, weshalb in japanischen und südkoreanischen Grundschulen die Kinder während der Pause die Landschaft beobachten müssen ? um die durch Bildschirme vernachlässigte Weitsicht zu trainieren.

Fühlen

Das Fühlerlebnis eines Tablet-Kindes wird auf monotones Bildschirmstreicheln reduziert, während möglichst variantenreiche und differenzierte Berührungen mit Händen und Füssen bis ins hohe Kindesalter essenziell für die Ausprägung der Grob- und Feinmotorik sind.

Riechen

Den Geruchs- und Geschmackssinn setzen wir gänzlich der Verkümmerung aus, da es bis heute noch nicht gelungen ist, digitale «Geschmacksdrucker» mit verschiedenen, sich dynamisch vermischenden Duftpatronen auf den Markt zu bringen.

Echtes Erleben fördern

So ist es kaum erstaunlich, dass das sensorielle Erlebnis (und die damit verbundene frühkindliche Entwicklung) durch übermässigen Bildschirmkonsum geradezu verkrüppelt.

Die Zukunft wird uns sagen, ob die unbestritten interessanten und neuen kognitiven Fähigkeiten des Multitaskings und Echtzeit-Verarbeitens von Unmengen von Inhalten den Verlust von echtem Erleben wettmachen kann. Ich wage, dies lautstark zu bezweifeln, will aber nichts behaupten. Bei der Eröffnung der ersten Bahnstrecke der Schweiz von Zürich nach Baden im Jahre 1847 gab es einen Facharzt, der ein unwillkürliches Verderben des menschlichen Gehirnes voraussagte, provoziert durch die mit dreissig Stundenkilometer vorbeirauschende Landschaft.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Bildschirmabstinenz soll und kann nicht das Ziel sein, zumindest nicht ab vier Jahren. Als ich jedoch kürzlich in einem Zürcher Gymnasium den Schülerinnen und Schüler die Frage stellte, was sie im Umgang mit digitalen Medien beunruhigt oder ihnen Angst macht, kam folgende Antwort: «Nicht mehr persönlich mit Leuten zu reden. Nichts mehr persönlich zu erleben». Ein tiefer Einblick in die Sorgen eines Screenagers, der die langfristigen Gefahren der digitalen Welt erkannt hat.

Oder noch besser, liebe Leserinnen und Leser: Teilen Sie Ihre kreativen Bildschirm-Alternativen gleich in der Kommentarfunktion unten und beweisen Sie uns allen, dass zumindest die letzten drei Minuten nützlich waren, um einen kollektiven Akt von Kreativität auszulösen.

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