Wie soll ich unsere Tochter beim Social-Media-Einstieg begleiten?
Social Media_Abhängigkeit_Sucht_Chancen_Gefahren_für Kinder

Eine Leserin fragt sich, wie sie ihrem Kind die Gefahren und Möglichkeiten auf Social Media aufzeigen kann. Dieser Beitrag diskutiert über Chancen und Gefahren von "social" Media Plattformen.

Lieber Herr Richert, ich bin nicht auf Social Media unterwegs – es hat mich nie interessiert, sondern eher abgeschreckt (Stichwort Aufmerksamkeitskiller, Suchtgefahr, Bilderflut von ungesunden Körpern). Jetzt kommt unsere bald 11-jährige Tochter aber in ein Alter, wo sie damit konfrontiert werden wird; lange werde ich diesen Trend also nicht mehr ignorieren können! Nach dem letzten Papablog-Beitrag von Markus Tschannen, in dem er verschiedene spannende Accounts von Kindern auf Social Media vorstellte, habe ich mich nun gefragt, ob ich meine Haltung überdenken sollte. Ich möchte unserer Tochter nicht nur die Gefahren, sondern auch die Möglichkeiten aufzeigen. Wie kann ich unsere Tochter beim Einstieg in diese neue Welt auf sinnvolle Weise begleiten? Leserinnenfrage von Caroline

Geschätzte Caroline, danke für Ihre Frage, mit der Sie vielen anderen Eltern aus dem Herzen sprechen. In Ihrer Fragestellung liegt gleichzeitig schon viel Antwort. Sie sind sich bewusst, dass Sie den Trend nicht mehr lange ignorieren können. Explizit wegschauen und so tun, als ob es diese Plattformen alle nicht gäbe, wäre eine denkbar schlechte Strategie, denn ihre Tochter wäre dann quasi gezwungen, die digitale Welt bei den Kolleginnen und anhand der vielleicht weniger strengen Richtlinien deren Eltern zu entdecken.

Metamorphose der Pubertät

Ihre Tochter steht vor der grandiosen Metamorphose der Pubertät. Sie wird sich mehr und mehr ablösen und abgrenzen wollen und ihre eigene Mädchen-Clique haben. Ihr kindlicher Körper wird sich in einen Frauenkörper verwandeln und sie wird verschiedene Looks und Modestile ausprobieren wollen. Digitale Plattformen wie Snapchat, Instagram oder TikTok sind hierzu verführerische Werkzeuge, die innert Sekunden kostenlos aufs Handy installiert werden und mit denen grenzenlos experimentiert werden kann.

So gesehen sind die «sozialen» Medien eine clevere Weiterentwicklung vom Spiegel am Kleiderschrank, dem noch vor zwanzig Jahren die Funktion eines Feedback-Gebers zukam. Der wichtigste Unterschied zwischen diesen beiden Welten liegt im schützenden Hier und Jetzt des Kleiderschrankspiegels. Es handelt sich um das gleiche Phänomen der Identitätssuche. Einerseits ist ihre Tochter in ihrer Welt und kann geschützt von fremden Blicken ungeniert Sachen ausprobieren. In der digitalen Welt jedoch wird sie angetrieben von Herzchen und Daumen-Hochs und verfällt dem unbewussten Rausch nach sozialer Anerkennung, ohne jeglichen räumlichen und zeitlichen Schutz.

Fokus auf die Bedürfnisse

Es ist wichtig, dass wir Kinder in ihrer Welt ernst nehmen und wir ihre Sichtweise zu verstehen versuchen. Fokussieren Sie bei Ihren Diskussionen auf die Bedürfnisse Ihrer Tochter und erzählen Sie ihr, wie Sie vielleicht viele dieser Bedürfnisse genau gleich erlebt haben. Erklären Sie, dass jedes hochgeladene Bild auf eine «soziale» Plattform nicht mehr löschbar ist (es entstehen mehrere Kopien und obwohl das Bild vielleicht auf dem Handy der Tochter gelöscht wurde, ist es noch an verschiedenen anderen Orten gespeichert) – und auch, dass ein unvorteilhaftes Bild schnell zu einer Cybermobbingvorlage werden kann.

Klären Sie Ihre Tochter auf, dass das Internet nicht vergisst und die durch unsere Likes genährten Algorithmen uns innert Tagen durchschauen und manipulieren können. «Soziale» Plattformen werden von neunzig Prozent der Schweizer Jugendlichen als Unterhaltung und passiver Zeitvertreib genutzt. Leider erhalten die Kinder dadurch nicht nur ein verzerrtes Bild der Realität (jedes Instagramaccount ist die Propagandaversion der betreibenden Person), sondern schwächen dabei ihre eigene Kreativität, die von immer mehr Arbeitgebern als die Kernkompetenz der Zukunft gepriesen wird.

Geschwächtes Selbstwertgefühl, depressive Gedanken, Konzentrationsschwäche, Fehlernährung oder mangelndes Empathievermögen sind allesamt Symptome, die mit einer unkontrollierten Nutzung von «sozialen» Medien in Verbindung gebracht werden.

Liebe statt Autorität

Erläutern Sie Ihrer Tochter, dass Sie nicht nur die volle Verantwortung tragen (TikTok, Snapchat und Instagram sind ab 13 Jahren freigegeben, WhatsApp und Youtube offiziell ab 16 Jahren), sondern dass Sie sie vor allem lieben und schützen wollen. Sobald Ihre Tochter versteht, dass es sich nicht um eine Ausnützung von elterlicher Autorität, sondern viel mehr um vorausschauende elterliche Liebe handelt, wird sie Verständnis zeigen.

Alternativen statt lange Diskussionen

Da das Geschäftsmodell der Betreiber von «sozialen» Medien auf Suchtförderung und Aufmerksamkeitsentführung beruht, gibt es in den USA die neue Bewegung «Wait until 8th». Zehntausende von Eltern ermutigen sich dabei gegenseitig, ihren Kindern nicht vor der achten Klasse (13-14 Jahre in den USA) ein eigenes Handy zu geben. So veranstalte auch ich regelmässig Elternabende in Primar- und Sekundarschulen, um die Eltern zu unterstützen, untereinander eine Mediennutzungsvereinbarung zu erarbeiten. Dies ist die effektivste Form gegen das «AADDA Syndrom»: Alle Andern Dürfen Das Aber.

Bei all den guten Gründen, die Nutzung von «sozialen» Medien zu verzögern, helfen vielfach lustige und unterhaltsame Alternativen am besten. Es fühlt sich so wunderbar verjüngend an, wenn wir unsere eigenen Handys verstecken und mit den Kindern zum Beispiel wieder Mal Versteckis spielen.

Dieser Text wurde erstmals im Tages-Anzeiger vom 2. Dezember 2022 veröffentlicht.

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