Sind wir wirklich Handysüchtig?

Lange ging man davon aus, dass Sucht ausschliesslich durch Konsum von Drogen wie Nikotin, Alkohol oder Heroin entstehen kann. Eine weitere Grundvoraussetzung zur Suchtdiagnose war die Marginalisierung. Süchtig war, wer einer Randgruppe von Drogenkonsumenten angehörte, die die Kontrolle über dessen Konsum verloren hatte.

Ein bestimmtes Verhalten als Sucht zu definieren ist relativ neu und die Entdeckung von Verhaltenssucht war eher zufällig. Als in den Fünfzigerjahren ein kanadisches Team von Wissenschaftler Versuche mit Ratten durchführten, lief etwas schief. Mehrere Tiere wurden mit elektrischen Sonden im Hirn ausgestattet, die einen Stromschlag auslösten, sobald die Tiere einen Metallhebel berührten. Erwartungsgemäss mieden sämtliche Ratten den Kontakt mit dem Metallhebel, um unnötiges Leiden zu vermeiden. Ausser einer Ratte. Diese drückte im Sekundentakt munter den Metallhebel bis sie nach 12 Stunden an Erschöpfung starb. Es stellte sich nachträglich heraus, dass die Ratte weder masochistisch veranlagt war noch unter Selbstmordgelüsten litt. Beim Einbau der Sonde unterlief den Wissenschaftlern ein winziger Fehler : die Sonde wurde nicht im Mittelhirn eingesetzt, sondern vielmehr im benachbarten «Lustzentrum». Und so wurde aus einem ursprünglich bescheidenen Experiment eine bahnbrechende Erkenntnis. Es gibt ein «Lustzentrum» im Hirn, das durch gezielte Stimuli gereizt werden kann und durch das Ausstossen von Hormonen wie Dopamin und Serotonin Glücksgefühle erzeugt.

In den achtziger- und Neunzigerjahren dann war die Pionierzeit von sogenannten Verhaltensforschern angebrochen. Nicht weniger als 6 Verhaltenswissenschaftler gewannen in den letzten dreissig Jahren den Wirtschaftsnobelpreis. Der Schwerpunkt der Forschungen war immer das Verständnis von irrationalem menschlichen Verhalten gegenüber rein wirtschaftlicher Logik. Warum fällt es uns schwerer, etwas zu verkaufen, das wir lieben (das Konzert Ticket meiner Lieblingsband ist doppelt so viel wert auf dem Schwarzmarkt)? Wie verändern wir unser Verhalten, nur weil wir geliebt werden wollen (stundenlanges Posen für das richtige Insta Selfie)? Warum überschätzen wir systematisch unser eigenes Wissen (Fehlprognosen für Marktentwicklung und Börsenkurse)? Durch tausende von Versuchen und Befragungen gelang es der Wissenschaft, unser irrationales Verhalten (d.h. Denkfehler) bei Entscheiden zu verstehen, zu messen und entsprechend vorherzusagen.

Alle wollen geliked werden

Und schliesslich kam das Zeitalter von Facebook mit der genialen Idee, unser Lustbedürfnis mit den kalkulierbaren Denkfehlern und Entscheidungsschwächen zu verkoppeln. Wir wollen alle geliked werden und wir sind alle entsprechend beeinflussbar. Von der Hintergrundfarbe über das Screensaver Bild bis hin zur Grösse, Form und Position von Action-Buttons ist alles genaustens abgestimmt, damit wir uns so verhalten, wie sich das Facebook wünscht. Und da Facebook praktisch ausschliesslich von Werbegeldern lebt geht es darum, unsere Aufmerksamkeit so lange wie möglich zu halten, um die daraus entstandenen Verhaltensdaten zu monetisieren und den Shareholder bestmöglichste Quartalszahlen zu liefern. Die kombinierten Erkenntnisse von Suchtforschung, Hirnforschung, Psychologie und Verhaltensforschung sind also verdammt clever verpackt worden, als «Soziale Medien» gebrandet und den Konsumenten und Konsumentinnen «gratis» zur Verfügung gestellt worden. Mit dem übergeordneten Ziel der kurzfristigen Gewinnmaximierung.

Und so verbringen wir unsere tägliche Pendlerzeit, unseren Klo-Aufenthalt, unser Aufstehen und ins Bettgehen mit dem monotonen Anstarren unseres Handys. Da es sich um ein Massenphänomen handelt, ist zumindest die Sucht-Definition von einer Randgruppe nicht mehr länger gültig. Und obwohl sich die American Psychiatric Association (APA) in ihrem weltweit gültigen diagnostischen und statistischen Handbuch von Geisteskrankheiten (DSM) «Sucht» explizit von Drogenkonsum auch auf Verhaltenssucht ausgeweitet hat, können wir die Titelfrage nicht schliessend beantworten. Um als «süchtig» zu gelten genügt es nicht, von einem bestimmten Verhalten oder Konsum abhängig zu sein. Wir müssen uns zusätzlich bewusst sein, dass unser Verhalten auf Dauer schädlich für unsere Gesundheit ist. Und um diese Sachlage schliessend zu bestätigen, fehlen uns entweder entsprechende Langzeitstudien oder aber die Lobbyisten aus dem Silicon Valley machen einen hervorragenden Job, um solche Studien (noch) zu verhindern.

 

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