Brauchen wir eine neue geistige Landesverteidigung?

Es geht uns gut, verdammt gut sogar. Die Lebensqualität in der Schweiz ist seit Jahren eine der höchsten der Welt und nur die Japaner können ein längeres Leben erwarten als wir. Wenn es um das pro-Kopf Reichtum geht sind wir einsame Spitze. Immer mehr zu einem special Feature im Vergleich zur geopolitischen Lage wird auch unsere funktionierende, direkte Demokratie. Auf unser beispielhaftes politisches System, wo wir alle dank Volksinitiative, Abstimmung und Referendum mitbeStimmen können, sind sogar Schweden, Kanadier und Deutsche neidisch.

Um dieses wertvolle Privileg der MitbeStimmung zu erhalten und auch in Zukunft zu schützen, werden wir im November eingeladen, um über die Selbstbestimmungsinitiative abzustimmen. An sich eine tolle und unterstützungswerte Idee, sagten sich ja schon die drei Ur-Eidgenossen, als sie sich auf dem Rütli Solidarität gegen fremde Vögte schwuren.

Doch eine funktionierende Selbstbestimmung setzt eine gesunde und objektive Meinungsbildung voraus. Glaubt man der Media Use Index 2017 Studie, ist das Internet via Smartphone die meistbenutzte News Quelle der Schweizerinnen und Schweizer während Tageszeitungen die grossen Verlierer sind. Der Reihe nach die beliebtesten Smartphone Apps sind WhatsApp, Facebook und Instagram. Da alle dieser drei Apps bzw. Plattformen dem Facebook Konzern gehören, müssen wir davon ausgehen, dass Facebook eine unheimliche Macht auf unsere Meinungsbildung hat.

Eine funktionierende Selbstbestimmung setzt eine gesunde und objektive Meinungsbildung voraus

Facebook hat jedoch herzlich wenig mit einem News Outlet zu tun, sondern ist ein börsenkotiertes US Software Unternehmen, das zu vierteljähriger Gewinnmaximierung für ihre Aktionäre verpflichtet ist. Anstatt informative Inhalte teuer selbst zu produzieren, werden die Nutzer mit dopamingenerierenden «likes» abgespiesen und durch nutzergenerierte Inhalte vor dem Bildschirm gehalten. Anstatt durch objektive Berichterstattung Reichweite aufzubauen, werden Fake News als click baits geduldet und deren Erstellung selbstverständlich an die Nutzer delegiert. Vermeidet Kosten und Verantwortung. Teure Vertriebskosten werden clever an die Nutzer abgewälzt, denn die personalisierten «News» sind ja unseren individuellen «Bedürfnissen» angepasst, damit wir die «News» dann auch mit unseren «Freunden» weiterleiten. Auch teure Bilderrechte für sympathische Werbeträger können demnächst vermieden werden. Facebook arbeitet an einem Programm, dass aus den Gesichtern meiner besten «Freunden» ein Gesicht einer virtuellen Person erstellt, die mir dann bekannt und vertrauenswürdig gleich neben der Werbebotschaft präsentiert wird. Da eine objektive oder sogar kritischen Berichterstattung weder «like-» noch «share-freundlich» wäre, sind die Nachrichten-Sortier-Algorithmen so programmiert, dass sie vorhandene Meinungen bestätigen.

Kurz, Facebook ist eine noch nie dagewesene Konzentration von Intelligenz, basierend auf einer quasi Echtzeit Datenanalyse unseres Nutzungsverhalten. Dies im Dienst der Werbetreibenden und allenfalls Regierungs-Organisationen, die uns Nutzer als Produkt kaufen.

Solange wir unsere persönlichen Daten gegen oberflächliche Gratisunterhaltung tauschen und diese zunehmend als «Nachrichten» verwechseln, hilft auch die beste Selbstbestimmungs-Gesetzgebung nichts. Wie der Cambridge Analytica Skandal von Facebook gezeigt hat, ist das Missbrauchspotential von zentralisierten Daten gewaltig.

Als die Ideologie des deutschen Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus vor und während dem 2. Weltkrieg einen zu starken Einfluss auf die schweizerische Meinungsbildung ausübte, wurde die sogenannte «geistige Landesverteidigung» als Gegenoffensive lanciert. Als solidarischer Widerstand gegen die Propaganda des Nationalsozialismus und als Schutz unserer kulturellen Identität war die «geistige Landesverteidigung» eine vielfältige Bewegung und Zusammenarbeit zwischen Politiker, Intellektuellen, Medienschaffenden und «Influencern».

Ich vergleiche hier keinesfalls die Ziele des Nazi Deutschland mit denjenigen von Facebook, sondern vielmehr deren technologischen Möglichkeiten, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen und zu lenken. Gegenüber öffentlichem Bücherverbrennen und Radiohörverboten unter Todesstrafe sind die unsichtbaren Meinungslenkungsmöglichkeiten von Facebook um ein Vielfaches subtiler und stellen genau deshalb ein enormes Missbrauchspotenzial dar.

Brauchen wir eine neue «geistige Landesverteidigung», um uns vor algorithmisch gesteuerten «Nachrichten» zu schützen, deren Interessen wir zwar nicht kennen, die uns aber besser kennen als wir uns selbst? Oder sind wir schlau genug, um das Spiel der Algorithmen zu durchschauen? Oder doch nur alles Angstmacherei und Verschwörungstheorien?

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