Ich war ja ohnehin schon ziemlich skeptisch gegenüber TikTok eingestellt, da unsere Zwölfjährige meiner Ansicht nach zu viel Zeit mit dieser App verbringt. Der Feed ist ja quasi endlos und inszenieren tun sich vorwiegend Menschen mit einem besonders grossen Geltungsdrang und sehr bescheidenen Talenten, nicht?
Als ich nun noch gelesen habe, dass TikTok beispielsweise schwul-lesbische Inhalte blockiert und kaum etwas für den Jugendschutz tut, nervt mich das Ganze noch mehr. Was muss man als Eltern sonst noch über TikTok wissen? Leserfrage von Denise aus Kloten
Liebe Denise, TikTok ist in der Tat die zurzeit trendigste soziale Plattform für Kinder und Jugendliche in der Schweiz wie auch weltweit. Obwohl die Altersbegrenzung ab 13 Jahren ist, wird die Plattform auch von jüngeren Kindern rege benutzt. Unter den zwölf- bis neunzehnjährigen Schweizer Jugendlichen benutzen über die Hälfte mehrmals wöchentlich TikTok. Nur Instagram, Snapchat und WhatsApp sind noch beliebter. Falls der Trend von TikTok anhält (alles deutet momentan darauf hin), könnte TikTok schon bald zur meistgenutzten App von Schweizer Jugendlichen werden.
Zuerst unter dem Namen Musica.ly gegründet, erlaubte die App das Kreieren von 15-30 Sekunden Lip synch (Lippensynchronisation), Videoszenen mit bekannten Songs. 2018 wurde Musical.ly in die TikTok-App integriert. Diese wird momentan in 150 Ländern von über einer Milliarde Menschen benutzt. Ich möchte in diesem Artikel weniger auf die vielen Features der Plattform eingehen (dazu gibt es viele Youtube Videos), sondern mich auf die Chancen und Risiken in der Medienerziehung konzentrieren.
Kreativität als Chance
TikTok ist gerade für Jugendliche sehr einfach zu benutzen und erlaubt es, innert Kürze coole Videos zu erstellen. Dazu stehen unzählige Effekte und Filter zur Verfügung. Auch Hintergrundfarben und Texte können den Videokreationen nachträglich beigefügt werden. Videos können verlangsamt oder auch im Zeitraffer publiziert werden. Auch Fotogalerien können musikalisch unterstützt zu Videos verarbeitet werden, sodass der Fantasie und Videokunst der Jugendlichen keine Grenzen gesetzt sind.
Jugendliche, die TikTok aktiv und kreativ nutzen, lernen dabei spielerisch, wie man attraktive Videoszenen erstellt. Sie müssen sich die Szenen ausdenken, sich organisieren, einüben und dann filmen. Zum organisatorischen Teil gehören auch die Requisiten, die für die ausgedachte Szene gesucht und ausgewählt werden müssen. Auch strategische Überlegungen hinsichtlich des Zielpublikums sind notwendig. Ist die Szene einmal gefilmt, vielfach erst nach Dutzenden von Drehversuchen, ist es wiederum den kleinen Realisatoren überlassen, mit welchen Post-Production-Sounds, Effekten und Texten die Szene ausgestattet wird, um die erhoffte Wirkung zu erzielen.
Kurz gesagt, TikTok ist eine unwahrscheinlich attraktive Plattform, die es Kindern und Jugendlichen erlaubt, ihre Kreativität voll auszuleben, dabei ihre Videoproduktionstalente selbst zu entdecken und ständig weiterzuentwickeln. Da sich diese äusserst leistungsfähige Videoproduktionsmaschine gratis direkt in 99 Prozent der Hosentaschen unserer Jugendlichen installieren lässt, sollte es uns auch nicht überraschen, dass dessen Nutzungsdauer und Frequenz gerade in Lockdown-Zeiten rasant in die Höhe geschnellt ist. Als Eltern sollten wir an dieser Stelle die technologisch hoch komplexe Plattform entsprechend würdigen und TikTok als kreativitätsfördernde und multimediale Lernstätte loben.
Vermeiden Sie, die Plattform pauschal zu verdammen oder zu ächten, nur weil es leider auch möglich ist, neonazistische Inhalte, Suizid-Aufforderungen oder Folterszenen hochzuladen. Mit der gleichen Argumentation müssten wir sofort sämtliche Sandkästen auf öffentlichen Spielplätzen schliessen, da man in solchen Einrichtungen ja auch Tretminen und vergiftete «Schleckstengel» verstecken könnte.
Die Pille gegen Langeweile
Die Millionen von nutzergenerierten Videoclips sind verständlicherweise ein unersättliches Reservoir an Unterhaltung, um möglichst jeden vermeintlich toten Moment zu vermeiden. Stellen wir uns eine immer volle Packung an Gummibärchen vor, bei der wiederum jedes Gummibärchen ein 15-sekundenlanges TikTok-Video repräsentiert. Ja, auch die Nährwerte sind vergleichbar.
Die TikTok-Algorithmen finden innert weniger Minuten heraus, welche Gummibärchen ihrem Kind am besten schmecken und füttern es dann Tag und Nacht. Einen «jetzt isch gnueg!»-Reflex bei den Gummibärchen empfinden wir als natürlich. Bei TikTok sollte sich dieser genauso selbstverständlich einstellen, was er aber häufig nicht tut. Nutzen Sie daher unbedingt das Bildschirmzeit-Management und die Inhaltsfilterfunktionen der App (Sektion Digital Wellbeing).
Viele Jugendliche bestätigen mir zudem, dass sie TikTok als puren Zeitvertreib und als Prävention gegen Langeweile nutzen. Während den Gesprächen mit Jugendlichen realisieren sie oft, dass ebendiese Langeweile eine Grundbedingung für ihre eigene Kreativität ist.
Zehn Mal mehr Konsumenten als Produzenten
Das Verhältnis zwischen kreativen Videoproduzentinnen und passiven Videokonsumenten ist ähnlich gelagert wie bei Youtube oder anderen Plattformen und liegt bei etwa 10:1. Das heisst, auf zehn passive Videoguckerinnen kommt ein Videoproduzent, Tendenz abnehmend. Mit anderen Worten ist es zehn Mal wahrscheinlicher, dass die im ersten Paragrafen hochgelobte Brutstätte der Kreativität in Realität eine endlose Schleuder von raffiniert ausgewählten Inhalten ist, um ihr Kind so lange wie möglich vor dem Bildschirm zu halten.
Ohne elterliche Unterstützung sind Kinder also dem Sog der perfekt abgestimmten Videolawine hilflos ausgesetzt. Wer in den Nutzungsbedingungen von TikTok Hilfe sucht, wird unter anderem mit diesen ernüchternden Worten empfangen:
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Nutzung auf eigene Gefahr
Es ist sicher von Bedeutung, dass TikTok als einzige der global grössten «sozialen» Plattformen einer chinesischen Firma gehört. Mit einer ernüchternden Selbstverständlichkeit haben wir uns längst damit abgefunden, unsere Daten mit US-amerikanischen Unternehmen zu teilen. Dies, obwohl wir grösstenteils weder über die technischen Kompetenzen noch über das Vorstellungsvermögen verfügen, wer was wann und wo mit diesen Daten anstellt.
TikTok gehört der Firma Bytedance mit Sitz in Peking. Die Firma hat rund 60'000 Mitarbeitende und erzielt über zwanzig Milliarden Dollar Jahresumsatz. Da jede chinesische Firma dieser Grösse der kommunistischen Partei einen internen Sitz zur Verfügung stellen muss, muss davon ausgegangen werden, dass die Daten systematisch zu politischen Zwecken genutzt werden. So finden wir auch folgenden Satz in den Nutzungsbestimmungen von TikTok: Sie verzichten weiter (soweit gesetzlich zulässig) im Zusammenhang mit Ihren Nutzerinhalten oder Teilen davon auf alle Rechte auf Privatsphäre, Persönlichkeitsrechte oder andere Rechte ähnlicher Art.
In diesem Sommer wurden die Nutzungsbestimmungen in den USA übrigens so angepasst, dass TikTok auch biometrische Daten wie Gesichtserkennung und Stimmerkennung auswerten kann. Angesichts des Sozialkreditsystems, mit dem die chinesische Regierung ihre Bevölkerung durch totale Überwachung in ein Punktesystem einbindet, müssen wir unbedingt hellhörig werden. Ein komplettes Löschen der App ist leider das einzige Mittel zur Abwehr.
Dieser Artikel wurde erstmals im Tages-Anzeiger vom 29. Oktober publiziert.