Von Trump bis Greta: Warum wir mit unseren Kindern über Onlineethik sprechen sollten.
Es hat etwas Surreales an sich. Während Schulleiter, Sozialpädagogen und Fachpersonen für Medienkompetenz mehr denn je über die Gefahren und teils fatalen Folgen von Sexting, Cybermobbing und unüberlegtem Nutzen von digitalen Medien unterrichten, beleidigen und demütigen sich die mächtigsten Männer der Welt via soziale Medien vor den Augen der Weltöffentlichkeit.
Gegen die rüpelhaften und respektlosen Tweets des amtierenden Präsidenten der USA, scheint sich die Welt leider bereits abgestumpft zu haben. Ein Zeichen davon ist die steigende Zahl anderer hochrangiger Politiker, die im Kielwasser seines schlechten Geschmacks Beleidigungen tweeten, die mich sprachlos machen und leer schlucken lassen. So bringt es Herr Bolsonaro, seines Zeichens brasilianischer Präsident, tatsächlich fertig, Herrn Emmanuel Macron via Twitter über das Aussehen seiner Frau zu beleidigen und gleichzeitig über seine jüngere First Lady zu prahlen.
Und als ob dies nicht genug des flegelhaften Benehmens wäre, gibt sich Herr Bolsonaro beleidigt vom kolonialistischen Gehabe des französischen Präsidenten und erwartet von diesem eine Entschuldigung, bevor er bereit ist, internationale Hilfe zur Löschung von Waldbränden im Amazonasgebiet anzunehmen. Ja, natürlich ist dies zumindest die Erzählung, die wir von den Mainstream-Medien erhalten.
Die Pest der glorifizierten Selbstdarstellung
Scheinbar gerechtfertigt vom rasant dahinschmelzenden Anstand und Respekt dieser Herren brachte es der Fox-News-Reporter Michael Knowles tatsächlich fertig, Greta Thunberg vor laufender Kamera als «mentally ill Swedish child» abzukanzeln.
Ich habe immer mehr das Gefühl, dass wir als Gesellschaft die Macht und die genialen Vorteile der digitalen Medien nicht verstanden haben. Anstatt als Kollektiv das direkte, weltumspannende Netz der Kommunikation zu nutzen, um uns weiterzuentwickeln und unser Wissen zu teilen, scheint die Pest der glorifizierten Selbstdarstellung und der Echtzeit-Beleidigungen Überhand zu nehmen. Getrieben durch clevere Algorithmen, die unser basales Bedürfnis nach Anerkennung schamlos ausnützen und uns auf der Jagd nach Likes Anstand abwerfen lassen, wird das Netz zunehmend zum Zeugnis eines beschämenden Verhaltens unserer Spezies. Um Shares, Views und Likes zu generieren, müssen wir immer schriller und lauter schreien, damit wir im infernalen Lärm des Netzes überhaupt wahrgenommen werden. Da das Geschäftsmodell der sozialen Medien darauf beruht, den von uns selbst produzierten, beworbenen und vertriebenen Inhalt zu monetarisieren, geht die Rechnung auf, zumindest für Facebook & Co.
Unser aller Kollateralschaden
Den kollateralen Schaden, den wir individuell wie auch als Gesellschaft davontragen, zeichnet sich zunehmend in Form von Depression, Überreizung, Stress und Vereinsamung ab. Wir scheinen nach wie vor nicht verstehen zu wollen, dass das Internet vor allem als ein Verstärker und Beschleuniger funktioniert, der unser Hier und Jetzt auf radikale Art aushebelt. Der Schutz des Hier (im Hinterhof der Schule) und Jetzt (was ich sage, ist flüchtig und verstummt sofort) ermöglichte ein respektloses Verhalten mit begrenzten Folgen und Risiken, zumindest für den Täter. Durch die immer bereite Handykamera wird alles gefilmt, hochgeladen, geteilt und auf unbestimmte Zeit gespeichert.
Was wir brauchen, sind kritische Gespräche zur Onlineethik. Eltern-Kinder-Gespräche über die Nutzung von digitalen Medien. Greta ist ein Vorbild und die Hoffnung unserer Kinder. Und eine wunderbare Einladung, gegenseitig bereichernde Gespräche über Werte, (mediale) Inszenierung und Wahrnehmung zu diskutieren. Während wir Eltern unbedingt den Kindern zuhören und von ihrem cleveren technischen Verständnis profitieren sollten, können Jugendliche von uns das Abschätzen von Risiken sowie das kritische Hinterfragen und Durchdenken von Konsequenzen lernen – allesamt Fähigkeiten, die ein gewisses Alter voraussetzen. Es sei denn, wir heissen Trump oder Bolsonaro.
Dieser Artikel ist erstmals im Tages-Anzeiger vom 10. Oktober 2019 erschienen. https://blog.tagesanzeiger.ch/mamablog/index.php/84803/digitales-zeitalter-der-beleidigungen/