Ein Tablet zu Weihnachten?
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Wo ich hinschaue, im Tram, im Bus, im Restaurant – überall begegnen mir Kinder, die am Tablet kleben. Die meisten von ihnen können knapp sprechen. Mich stimmt das traurig, denn ich halte nicht viel davon, ein Kind mit einem Gerät ruhig zu stellen. Nun findet aber mein Mann, dass ich ganz schön veraltete Ansichten vertrete, und möchte unserem Fünfjährigen ein Tablet zu Weihnachten schenken. Durch die frühe Mediennutzung würde unser Sohn kognitive und motorische Fähigkeiten erlernen, die ihm in Zukunft nützlich sein würden, so seine Ansicht. Wie seht ihr das? Leserfrage von Denise (39) aus Zug.

Liebe Denise, machen Sie – Ihrem fünfjährigen Sohn zuliebe – alles, um das Tablet-Geschenk so lange wie möglich hinauszuzögern.

Stellen wir uns vor, ich hätte vor dreissig Jahren während der Stosszeit auf dem Paradeplatz auf einem Podest gestanden und den Leuten prophezeit, dass drei Jahrzehnte später, alle Jugendlichen der Schweiz mit einem Fernseher im Hosensack rumlaufen würden, mit dem Sie sämtliche Kanäle der Welt schauen und gleichzeitig ihre Hausaufgaben machen könnten. Und mit dem sie miteinander spielen könnten. Und mit dem die Eltern sie jederzeit orten könnten. Und der auch gleich das Trambillett, den Taschenrechner, die Musiksammlung, das Lexikon und die Fotokamera ersetzt.

Begeisterung für digitale Medien versus Kleinkinderziehung

Meine Chancen auf eine direkte Einweisung in die psychiatrische Klinik wären gross gewesen. Sie haben es bemerkt, die beschriebene Utopie ist zu hundert Prozent unsere Realität. Die schier unendliche Faszination, die wir für leuchtende, flache Vierecke mit ständig ändernden Pixeln entwickelt haben, ist also durchaus berechtigt. Meine Begeisterung für die digitale Technologie hat jedenfalls in all den Jahren an nichts eingebüsst.

Vor 21 Jahren war ich zusammen mit meiner damals schwangeren Lebensgefährtin in einer Ultraschalluntersuchung und habe mit meinem klobigen, aber damals modernsten Handy Tonaufnahmen des schnellen Herzschlags unseres ersten Sohnes gemacht. Noch am gleichen Abend stellte ich die Aufnahme auf eine eigens dazu eingerichtete Webpage, um damit die Tanten, Onkel und zukünftigen Grosseltern in der Schweiz, in Deutschland und in Chile zu beglücken (ich wohnte damals in Kanada).

Wenn Sie mir heute sagen würden, ich hätte eine fahrlässige virtuelle Frühgeburt mit eklatantem Eingriff in die Privatsphäre meines Fötus-Sohnes begangen, dann wäre ich mit Ihnen grösstenteils einverstanden.
Unsere unermessliche Begeisterung für digitale Medien den Bedürfnissen der Kleinkinderziehung und dem körperlichen Entwicklungsprozess gleichzusetzen, ist ein fataler Trugschluss.

Alle Sinne zu trainieren, macht Sinn

Menschliche Intelligenz beruht grösstenteils darin, mit welcher (kognitiven) Kapazität wir «Sinn» aus jeder erdenklichen Situation machen können. Um dies zu erreichen, sind wir wiederum auf unsere fünf klassischen Sinne Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen angewiesen (für die Interessierten: Rudolf Steiner hat in seiner Lehre von 12 Sinnen gesprochen). Wenn also ein einjähriges Kind im Hochstuhl Essen auf den Boden schmeisst, erlernt es nicht nur die verschiedenen Texturen, Temperaturen und Gerüche von Esswaren, sondern hat gerade dazu noch die Gravitationskraft entdeckt. Dazu gibt es keine App.

Hören

Wenn wiederum jugendliche Ohren vorwiegend mit Airpods zugestopft sind, dann gewöhnt sich das Gehör an hoch komprimierte, künstlich zusammengestauchte MP3-Frequenzen und verlernt allmählich (oder, schlimmer noch, erlernt gar nie) das Hören des menschenmöglichen Hörspektrums.

Sehen

Wenn von Geburt an neugierige Augen dazu trainiert und erzogen werden, stundenlang auf kleine, leuchtende Vierecke zu starren, dann zieht dies unweigerlich eine Verkümmerung des Sehvermögens nach sich. Dies ist übrigens der Grund, weshalb in japanischen und südkoreanischen Grundschulen die Kinder während der Pause die Landschaft beobachten müssen – um die durch Bildschirme vernachlässigte Weitsicht zu trainieren.

Fühlen

Das Fühlerlebnis eines Tablet-Kindes wird auf monotones Bildschirmstreicheln reduziert, während möglichst variantenreiche und differenzierte Berührungen mit Händen und Füssen bis ins hohe Kindesalter essenziell für die Ausprägung der Grob- und Feinmotorik sind.

Riechen

Den Geruchs- und Geschmackssinn setzen wir gänzlich der Verkümmerung aus, da es bis heute noch nicht gelungen ist, digitale «Geschmacksdrucker» mit verschiedenen, sich dynamisch vermischenden Duftpatronen auf den Markt zu bringen.

Echtes Erleben fördern

So ist es kaum erstaunlich, dass das sensorielle Erlebnis (und die damit verbundene frühkindliche Entwicklung) durch übermässigen Bildschirmkonsum geradezu verkrüppelt.

Die Zukunft wird uns sagen, ob die unbestritten interessanten und neuen kognitiven Fähigkeiten des Multitaskings und Echtzeit-Verarbeitens von Unmengen von Inhalten den Verlust von echtem Erleben wettmachen kann. Ich wage, dies lautstark zu bezweifeln, will aber nichts behaupten. Bei der Eröffnung der ersten Bahnstrecke der Schweiz von Zürich nach Baden im Jahre 1847 gab es einen Facharzt, der ein unwillkürliches Verderben des menschlichen Gehirnes voraussagte, provoziert durch die mit dreissig Stundenkilometer vorbeirauschende Landschaft.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Bildschirmabstinenz soll und kann nicht das Ziel sein, zumindest nicht ab vier Jahren. Als ich jedoch kürzlich in einem Zürcher Gymnasium den Schülerinnen und Schüler die Frage stellte, was sie im Umgang mit digitalen Medien beunruhigt oder ihnen Angst macht, kam folgende Antwort: «Nicht mehr persönlich mit Leuten zu reden. Nichts mehr persönlich zu erleben». Ein tiefer Einblick in die Sorgen eines Screenagers, der die langfristigen Gefahren der digitalen Welt erkannt hat.

Oder noch besser, liebe Leserinnen und Leser: Teilen Sie Ihre kreativen Bildschirm-Alternativen gleich in der Kommentarfunktion unten und beweisen Sie uns allen, dass zumindest die letzten drei Minuten nützlich waren, um einen kollektiven Akt von Kreativität auszulösen.

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